Nur Sterben ist sicherer

Die Fußball-Bundesliga: Rettung vor Verzweiflung  ■  PRESS-SCHLAG

Der Sonnabend ist heilig in der Bundesrepublik Deutschland, er gilt den Feiern der Weltordnung. Alle sieben Tage wieder treten sie an, Gewißheit zu beschwören, jeweils 22 Tänzer, auf neun grünen Rasenflächen. Mit ihnen erflehen Hunderttausende Gläubige in den Stadien und vor den Fernsehern Erlösung aus der Furcht vor den Grauen des Alltags, vor den unwägbaren Bedrohungen der Existenz und des irdischen Lebens. Wenn der neunte schwarze Wächter über die ehernen Regeln der FIFA das neunte Spiel der ersten Liga abgepfiffen hat, ist das Chaos symbolisch besiegt. Atombomben, Umweltgiften, Krankheiten, Arbeitslosigkeit, Asylanten, Aussiedlern, Rechten, Linken, Politikern und Skandalen - ihnen allen wurden wieder die Grenzen ihrer unheilvollen Macht aufgezeigt: Die neue Tabelle beweist die Überlegenheit des Prinzips der Berechenbarkeit über alle Ängste.

„Warum kommen die Leute ins Stadion?“ wurde der legendäre Bundestrainer Sepp Herberger gefragt. „Weil sie nicht wissen, wie es ausgeht.“ Hier irrte der „Chef“. Fans wissen, wie es ausgehen wird: mit einem Ergebnis. So oder so, Sieg, Niederlage oder Unentschieden, auf jeden Fall steht, wenn das Spiel zu Ende ist, ein greifbares Resultat fest. Riten retten vor der Verzweiflung. Deuter von Schöpfung und Kosmos sowie Wahrer des Göttlichen wissen das längst. Wie einst der Adel der Mayas, peitscht jetzt Steffi Graf den Ball zu Ehren der höchsten Ordnung über das Netz. Jeder Put von Bernhard Langer, den Regeln gerecht Loch für Loch zelebriert, bringt uns der Erlösung vom Ungewissen zählbar näher. In Zahlen ist Wahrheit: Kabbala und Allensbach sind Zeugen.

Sportliche Wettkämpfe bilden einen Halt in der Unübersichtlichkeit. Was meßbar ist, ist auch vergleichbar: So bildet sich eine Struktur, ein Netz von Daten, Fakten und Skalen. Weltweit umspannt es beruhigend eine unruhige Welt als ein Ordnungsprinzip von tabellarischer Schlichtheit und damit von überwältigender Überzeugungskraft. Ordnungsprinzipien müssen nachvollzogen werden, immer wieder, unaufhörlich, damit ihre Gültigkeit erkennbar bleibt. Dafür sorgen die Sportlerinnen und Sportler. Alle vier Jahre leuchtet die heilige Flamme aus Olympia über den Weltspielen zu Ehren der universalen Ordnung. Winter für Winter zieht die Schar der Ski-Athleten über die Berge der Welt, um, Rennen für Rennen, ihre Gültigkeit zu beweisen. Sommer für Sommer rasen die Radler über die Länder, um das höchste Prinzip mit Leben zu erfüllen. Woche für Woche dribbeln die Fußballer auf unzähligen Plätzen, um mit dem tückisch runden Ball ein Resultat zu erzielen, mit dem man rechnen kann.

Und jeden Tag künden die Sportseiten der Zeitungen von der Überwindung des Chaos. Trost tönt täglich aus den Fernsehern und Radios: Die Welt ist noch in Ordnung. Wieder haben Athletinnen und Athleten in den modernen Kirchen und Kathedralen zu Wasser, zu Lande und in der Luft demonstriert, daß ein Vernunftprinzip die Welt beherrscht überzeugender als theologische und philosophische Systeme. Die Sportgemeinde braucht keine Propheten, keinen Augustin und keinen Kant. Sie braucht nur Resultate.

Das ist der womöglich stärkste Trumpf, den der Sport gegen Zweifel und Zweifler ins Felde führen kann: Er legitimiert seinen Anspruch auf normative Verbindlichkeit mit Fakten einsichtiger als der Vatikan seine Dogmen mit Priestern und der Staat seine Gesetze mit Polizisten. Nicht mit dem Glauben an das Gute und nicht durch die Angst vor Strafe hält der Sport die Menschen bei der Stange, sondern durch Tatsachen.

Es lebe der Sport: Er macht uns sicher, daß es noch Verläßlichkeit in der Welt gibt. Nur zu sterben ist sicherer, weist dafür aber unübersehbare Nachteile auf. Der Tod ist zu unberechenbar, um die Überlebenden zu entsorgen und wird stets als ungerecht empfunden. Noch die Niederlagen von Boris Becker lassen hingegen Hoffnung auf spätere Siege zu. Selbst Schalke-Fans können vom Wiederaufstieg träumen.

Wolfgang Biehusen