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Nicht die Täter, die Opfer sind angeklagt

In Istanbul begann der Prozeß gegen Teilnehmer der 1.-Mai-Demonstration / Erschütternde Augenzeugenberichte für ein gelangweiltes, abgestumpftes Gericht / Özcan, 14 Jahre alt, durch zwei Beinschüsse bei der Demo verletzt, berichtet über zwei Monate im Knast  ■  Von Ömer Erzeren

„Nehmt die Hirne der Kommunisten auseinander“, tönte der Istanbuler Polizeifunk am 1.Mai dieses Jahres. Mit Schußwaffen und mit Holzknüppeln, in die Nägel eingehauen waren, hatten die türkischen „Sicherheitskräfte“ die verbotene 1.-Mai-Demonstration aufgerieben. Der Demonstrant Mehmet Dalci starb mit Polizeikugeln im Rücken. Dutzende Schußverletzte suchten Hilfe in Krankenhäusern. Jetzt läuft das juristische Nachspiel des blutigen Tages.

Vor dem Staatssicherheitsgericht, zuständig nur für „Verbrechen gegen den Staat“, wird verhandelt. Angeklagt sind nicht die Mörder von Mehmet Dalci, nicht diejenigen, die mit Waffen auf Unbewaffnete schossen. Angeklagt sind Demonstranten. Nur gegen achtzehn Personen - willkürlich ausgewählt unter den 533 Festgenommenen - hat der Staatsanwalt Anklage erhoben.

Die gewohnte Prozedur zu Anfang der Verhandlung: „Özcan Beltek, Sohn von Mustafa und Fatma, 21.10.1975 geboren in Inebolu, ledig, arbeitet in einem Elektrikerladen.“ Ein kleiner Junge steht auf. „Gib mir deinen Personalausweis“, sagt der Richter. „Das ist ja noch ein Kind“, flüstert er in Richtung Staatsanwalt. Kopfnicken. „Es wurde festgestellt, daß der Angeklagte jünger als 15 Jahre alt ist.“ Sein Verfahren wird vor einem anderen Gericht weitergeführt werden. „Mein Sohn, dein Verfahren ist an einem anderen Tag. Geh jetzt nach Hause“, sagt der Richter.

Das Kind hat zwei Kugeln im linken Bein. Die am 1.Mai abgefeuerten Polizeikugeln müssen noch herausoperiert werden. Gegen das Kind wird wegen des Verstoßes gegen das „Demonstrationsgesetz“ Gefängnis von drei Jahren gefordert. Das Kind verbrachte zwei Monate in Untersuchungshaft im Gefängnis Sagmalcilar. Dort, wo die politischen Gefangenen einsitzen.

Eine Rechtsanwältin, auf Mandantenbesuch im Gefängnis Sagmalicilar, hatte ihn dort zufällig getroffen. Ihr erzählte er seine Geschichte. Sie machte seinen Fall publik. „Ich war am 1.Mai in unserem Elektrikerladen. Ich war neugierig auf die Ereignisse draußen und lief raus. Ich war plötzlich unter einer Gruppe, die Transparente hielt. Die Polizei schoß hinter uns her. Ich hatte Angst und lief weg. An meinem Bein wurde ich angeschossen. Zehn bis 15 Minuten kümmerte sich niemand um mich. Ein junges Mädchen nahm mich dann in die Arme und brachte mich zu einem Taxi. Später wurden wir von Polizisten mit Maschinenpistolen angehalten. Sie verprügelten den Taxifahrer. Sie schlugen auf das Mädchen und mich ein und zerrten uns in einen Polizeiwagen. Auf mein verletztes Bein haben sie immer wieder draufgeschlagen.“

Während der Verhandlungspause zeige ich Özcan in der Teestube des Gerichtsgebäudes ein Foto. Im Vordergrund ein Mann, der von Zivilpolizisten zu Boden geschlagen wird. Im Hintergrund Polizisten, die auf einen kleinen Jungen einschlagen. „Bist du das?“ frage ich Özcan. „Nein, aber den Onkel vorne kenne ich. Im Haseki-Krankenhaus habe ich ihn kennengelernt. Er hatte auch Kugeln im Bein. Er war sehr gut zu mir.“

Die politischen Gefangenen haben sich im Gefängnis um den Kleinen gekümmert. Dort hörte er erstmalig etwas über die Bedeutung des 1.Mai für die „Arbeiterklasse“, über den „Kampftag der Arbeiter“ hat man mit ihm dort geredet. Mit vielen kindlichen Vorstellungen hat er nach den Erfahrungen gebrochen. „Ich wollte immer, daß mein dreijähriger Bruder Sercan Polizist wird“, gestand er der Journalistin Nur Toprakoglu. Nun ist Schluß damit. „Er soll zur Schule und studieren.“

Die Mitangeklagten Özcans sind junge Leute, kaum einer älter als 25. Der Reihe nach sagen sie vor dem Richter aus. Ein Teil von ihnen ist nicht nur des Verstoßes gegen das Demonstrationsgesetz angeklagt, sondern auch nach Artikel 100 der Zugehörigkeit zu einer „illegalen Organisation“ oder „Bande“. Zehn Jahre Gefängnis ist das Strafmaß. In einer Tasche wurden nämlich Flugblätter, unterzeichnet von der TDKP, der „Revolutionären Kommunistischen Partei der Türkei“, gefunden.

Gelangweilt zieht der beisitzende Richter an seinem Rosenkranz, als die Angeklagten zu den Anklagepunkten der Reihe nach aussagen. Übliches, Gewohntes: Folter nach der Festnahme bei der politischen Polizei. Bekenntnisse zum 1.Mai, Politerklärungen. In Aufregung, voll mit Versprechern, verliest der 17jährige Soner Karan seine Aussage, die er auf ein paar Blättern aufgeschrieben hat. Seine Hand zittert zu Beginn. „Ich bin Arbeiter. Zwei Finger habe ich mit 14 bei einem Arbeitsunfall verloren.“ Kurzbiographie, Umstände der Festnahme, Folter, Schlußerklärung. „Ich habe nichts mit der Revolutionären Kommunistischen Partei der Türkei zu tun. Ich habe keine rote Flagge getragen.“

„In der Schule haben sie uns immer beigebracht, daß die Gerichte unabhängig sind“, sagt die Studentin Figen Oral, die seit dem 1.Mai in Untersuchungshaft sitzt. „Die politische Polizei, die mich seinerzeit dem Haftrichter vorführte, sagte mir, daß gegen mich Haftbefehl ausgestellt wird. Sie haben offensichtlich mehr zu sagen als das Gericht. Das Schulwissen stimmte nicht.“ Detailliert schildert sie ihre Erfahrung des 1.Mai: Die Schüsse, die auf sie abgegeben wurden, ihre Flucht, ihre Festnahme - an den Haaren wird sie in den Gefangenentransporter gezerrt, die Elektroschocks auf der politischen Polizei.

Der beisitzende Richter gähnt. Die Abstumpfung ist perfekt. Die langen, beeindruckenden Ausführungen werden nur mit ein paar Sätzen im Gerichtsprotokoll vermerkt werden. Und selbst die sind nicht ganz korrekt: „Die Angeklagte sagte, daß sie an die Unabhängigkeit der Gerichte glaubt. Sie sagte, daß sie keiner illegalen Organisation angehört“, gibt der Richter zu Protokoll.

Ende des Prozeßtages. Acht der 18 Angeklagten, die noch in Untersuchungshaft sitzen, werden auf freien Fuß gesetzt. Der Prozeß wird fortgeführt. Ein neuer Termin ist angesagt. Möglichen skandalträchtigen Schlagzeilen in der türkischen Presse ist vorgebeugt: Kein 14jähriges Kind, das mit Kugelschüssen im Gefängnis einsitzt. Kein 1.-Mai -Demonstrant, der weiter in U-Haft einsitzt. Die Justiz zeigte sich milde, nachdem die staatliche Abschreckung so perfekt war. Unvergessen sind die Worte des stellvertretenden Vorsitzenden der regierenden Mutterlandspartei, Galip Demirel, nach den Todesschüssen am 1.Mai. „Im Interesse der öffentlichen Ordnung ist alles erlaubt. Wenn der eigene Bruder sich gegen die staatliche Ordnung auflehnt, darf er getötet werden.“ „Warum wird dieser Herr nicht angeklagt?“ fragt mich ein Angeklagter.

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