Alte Köpfe - neue Preise

■ Ab heute sind in Polen die Lebensmittelpreise freigegeben / Aus Warschau Klaus Bachmann

Nach der verlorenen Wahl trat Ministerpräsident Rakowski zurück, am Wochenende durfte er Parteichef werden - und nahm seinem Nachfolger als Ministerpräsident, Ex-Innenminister Kisczak, schnell noch eine unpopuläre Entscheidung ab: die Freigabe der Lebensmittelpreise. Selbst die Opposition hatte sie gefordert, weil sonst die Märkte leerbleiben - aber gleichzeitig möchte die einen 100prozentigen Inflationsausgleich für die ArbeiterInnen. Den wird es allerdings nicht geben - auch eine Solidarnos1c-Regierung könnte sich eine solche Super-Inflationspolitik nicht leisten.

Die Maßnahme war überfällig, seit die Lebensmittelversorgung in den größeren Städten in den letzten wochen praktisch zusammengebrochen war. Für die Landwirte lohnte sich nach den letzten Preiserhöhungen für Treibstoff und Maschinen die Viehhaltung nicht mehr. Und was noch an Schlachtvieh da war, lieferten sie - in Erwartung höherer Preise vor allem für Fleisch und Wurst - nicht mehr ab.

Künftig können nun die Bauern selber ihre Gewinnspannen kalkulieren, lediglich einige Grundnahrungsmittel der untersten Qualitätskategorie bleiben weiter preisgebunden, wie Magermilch, weißer Magerquark, eine einzige Brotsorte und Babynahrung. Alle anderen Lebensmittelpreise werden jetzt in die Höhe schnellen - bis zum Dreifachen des bisherigen, so wird geschätzt.

Auch die Opposition hatte sich in der Vergangenheit für die Einführung von Marktmechanismen in der Landwirtschaft ausgesprochen, hält die Entscheidung der Regierung allerdings für „überstürzt“. Die Freigabe der Preise genüge nicht, um die Versorgung sicherzustellen, solange das staatliche Transport- und Einzelhandelsmonopol weiterbestehe.

Tatsächlich steht zu befürchten, daß die Einzelhandelskette „Spolem“ und das Transportwesen einfach ihre Kosten auf die Verbraucher abwälzen, ohne sich über Rationalisierungen Gedanken zu machen. Die Preisfreigabe wird auch deshalb nicht unmittelbar zu volleren Fleischerlädenführen, weil die Landwirte in den letzten Jahren immer mehr von der unrentablen Viehhaltung abgegangen sind.

Um einer Protest- und Streikwelle vorzubeugen, hat sich die scheidende Regierung Rakowski zugleich entschlossen, den Verbrauchern Ausgleichsbeträge auszuzahlen, die die bisherigen Rationierungskarten ersetzen sollen. Damit soll erreicht werden, daß die Verbraucher zunächst weiterhin soviel Fleisch ohne Mehrkosten kaufen können, wie sie bisher im Rahmen der Rationierung zugeteilt bekamen. Doch die Rechnung dürfte nicht aufgehen: Die Preiserhöhungen bei Fleisch und Wurst werden auch zu Preisschüben in anderen Branchen führen, für die keine Ausgleichszahlungen vorgesehen sind.

Hinzu kommt'daß der Sejm noch immer nicht die am runden Tisch vereinbarte sogenannte Indexierung der Löhne verabschiedet hat. Danach sollten alle Preissteigerungen mit automatischen Lohnerhöhungen in Höhe von 80 Prozent der Inflationsrate teilweise ausgeglichen werden.

Die offiziellen Gewerkschaften OPZZ hatten dagegen von Anfang an vollen Lohnausgleich gefordert. Und mittlerweile läuft auch Solidarnosc den Forderungen der Basis hinterher: In einer Erklärung ihrer Landesexekutivkommission vom Wochenende wird jetzt dieselbe Forderung aufgestellt. Tatsächlich würde der reale Inflationsausgleich auch bei einem Index von 80 Prozent noch niedriger liegen, da die Preissteigerungen erst mit Verzögerung ausgeglichen werden.

Besonders nachteilig wirkt sich die sofortige Freigabe der Preise für die polnischen Rentner aus. Sie sollen die Ausgleichszahlungen nämlich erst im Laufe der nächsten zwei Wochen erhalten. Wenn das Geld dann überhaupt vom Briefträger ausgeliefert wird. Unterbezahlung und Prsonalmangel haben dazu geführt, daß in der letzten Zeit viele alte Menschen ihre Renten bei den Postämtern abholen mußten, von denen wiederum viele - wegen Personalmangel geschlossen haben. Haben die Rentner dann nach langem Suchen endlich einen offenen Schalter gefunden haben, müssen sie oft noch stundenlang Schlange stehen.

Problematisch ist die Preisfreigabe zum jetzigen Zeitpunkt auch deshalb, weil sie die Inflation weiter anheizt. Die Ausgleichszahlungen sind genausowenig wie später die Lohnerhöhungen per Indexierung durch ein Warenangebot gedeckt. Schon heute bezahlt die Regierung die Hälfte ihrer Ausgaben damit, daß sie die Notenpresse in Gang setzt. Gibt es aber mit den per Index steigenden Löhnen nicht mehr als vorher zu kaufen, dann wird die unbefriedigte Nachfrage die Preise weiter in die Höhe treiben, auch die Landwirte werden ihre steigenden Kosten dann wieder auf die Käufer abwälzen.

Und noch ein Pferdefuß kommt auf die Lohnempfänger zu: Je höher die Inflation, um so stärker ist auf Dauer der Kaufkraftverlust bei einer 80-Prozent-Indexierung. Angenommen, die Preise verdoppelten sich im August und im September noch einmal, dann ließe die Indexierung die Reallöhne im ersten Monat um ein Fünftel und im zweiten Monat noch einmal um ein Fünftel sinken - auf 64 Prozent der ursprünglichen Kaufkraft. Solche Einschnitte in der Lohntüte werden besonders die Arbeiter in der verstaatlichten Industrie kaum hinnehmen.