Der Rubel rollt bei Radikalreformer-Treffen

Die „Überregionale Gruppe“ der radikalen Abgeordneten im Kongreß der Volksdeputierten sammelt Spenden der Moskauer / Von allen Forderungen überwiegt das Verlangen nach Rechtsstaatlichkeit: „Alle Macht dem Gesetz!“  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Ein jovialer, eislutschender Milizionär wies die Autofahrer zum Ort des abendlichen Meetings. Ein Treffen, auf dem 1.000 Befürworter der Unterstützung der „Überregionalen Gruppe“ von Abgeordneten des Kongresses der Volksdeputierten, Repräsentanten der Wählerklubs aus verschiedenen Moskauer Stadtbezirken und Vertreter informeller Gruppen versuchen wollten, den Fluß von Geldspenden für die neue Gruppe zu beschleunigen. Die meisten von ihnen gehörten bereits vorher dem „Fonds zur Unterstützung von Deputierten-Initiativen“ an. Ziel ihrer Aktion ist die finanzielle Selbständigkeit, um darüber mehr politische Handlungsfreiheit zu erreichen. Ort ist der Irrgarten des riesigen Sportgeländes Luschniki, der vor den Wahlen zum März von Massenmeetings fast gesprengt wurde. In den letzten Wochen wurde er zum Schauplatz kleinerer, fast intimer Veranstaltungen, die mal in der Halle, mal auf der Wiese stattfanden.

„Ich möchte besonders darauf aufmerksam machen, daß sie am letzten Wochenende Zeugen eines historischen Ereignisses geworden sind: Erstmals seit 1918 gibt es eine normale Parlamentariergruppe in einem sowjetischen gesetzgebenden Organ.“ Der Moskauer Abgeordnete Stankewitsch, der sich mit diesem Satz speziell an die anwesenden Auslandskorrespondenten wendet, wirkt auf der Tribüne wie ein Collegeboy aus einem Schulbuch der fünfziger Jahre und ist doch die große Zukunftshoffnung der Vertreter einer radikalen politischen Reform in Moskau.

Die Ethnologin Galina Anatoljewna Starowojtowar nimmt seinen Gedanken ein wenig später auf: „Die wahre Opposition in diesem Land sind die Gegner unserer Gruppe, sie stehen nämlich in Oppositon zum Volk.“ Frau Starowojtowar fühlt sich besonders dem Ziel der Gruppe verpflichtet, die Nationalitätengegensätze zu überwinden. Das russische Volk habe durch seine Identifikation mit der sowjetischen Geschichte und den sowjetischen kulturellen Institutionen mehr als alle anderen Völker im Staate seine kulturelle Identität verloren: „Ein Volk, das andere unterdrückt, kann selbst nicht frei sein.“

Daß von allen hier vorgebrachten Forderungen das Verlangen nach Rechtsstaatlichkeit das Publikum am stärksten bewegt, ist an den Transparenten abzulesen: „Alle Macht dem Gesetz! Nieder mit der Selbstherrschaft von Gerichten und Staatsanwaltschaft, mit den Meineiden und denen, die dahinter stehen!“ Auf anderen Plakaten heißt es: „Gljan und Iwanow sind unser Gewissen und unsere Hoffnung!“ Mit minutenlangen Ovationen, Blumen und Hochrufen wird der Leningrader Untersuchungsrichter Iwanow empfangen, der zusammen mit seinem Kollegen Gljan die These vertritt, daß die Spuren des organisierten Verbrechens und der sowjetischen Mafia ins Moskauer Zentralkomitee führen. Beide Untersuchungsrichter mußten sich schon mehrfach gegen Repressionen zur Wehr setzen. „Man muß in Betracht ziehen, welch schreckenerregendes Verhältnis unsere Spitze zu den Fällen Gljan und Iwanow hat“, mahnt er. „Trotzdem sind sie gezwungen, mit den Leuten zu rechnen, mit uns allen hier, und wir sind Hunderte von Millionen.

Der Rechtsexperte Iwanow geht auch auf das Verbot einer eigenen Zeitung für die Deputiertengruppe ein und droht: „Wenn wir die Erlaubnis nicht bekommen, werden wir handeln und unser unentbehrliches Massenorgan in einer eigenen Druckerei produzieren, auf unserem eigenen Papier - genau wie die Revolutonäre in der guten alten Zeit!“ Einmachgläser und Aquarien füllen sich mit Geld für den gemeinsamen Zweck, den Ordnern quellen mitunter die Scheine aus den Händen.

In der Schlußresolution werden die Forderungen der „Überregionalen Deputiertengruppe“ bekräftigt. Die wichtigste: die Einbrufung einer außerordentlichen Tagung des Kongresses der Volksdeputierten - nicht später als September - mit dem Ziel, Verbesserungen in die gegenwärtige Verfassung einzubringen. Auch ein neues Wahlgesetz soll verabschiedet werden: gleiche, geheime Wahlen auf der Basis alternativer Kandidaten. 450 Stimmen sind notwendig, um den Sonderkongreß zu erzwingen. Am Montag abend waren der „Überregionalen Gruppe“ 396 Deputierte beigetreten. Mit den Stimmen der baltischen Abgeordneten, die ihre Unterstützung bisher allerdings nur individuell zugesagt haben, wäre die erforderliche Mehrheit jetzt schon erreicht.