Politik mit Geiseln

■ Für Israel war die Kommandoaktion im Libanon ein Prestigeunternehmen / Kein scharfer Konflikt mit Washington

Noch weiß niemand, ob William Higgins am Montag ermordet wurde - oder ob er längst tot war, als die Israelis den Hizbollah-Scheich Obeid verschleppten. Die internationale Kritik stößt in Jerusalem in jedem Fall auf taube Ohren. Dort geht der Streit nur darum, ob man das Kidnapping lieber hätte geheimhalten sollen. Noch ist nicht ausgeschlossen, daß ein Austausch Geiseln gegen Gefangene zustandekommt. Zu befürchten ist jedoch, daß eine der Entführergruppen ihre Morddrohung gegen weitere zwei der noch 15 ausländischen Geiseln im Libanon wahrmacht.

Noch vor einer Woche interessierte die israelische Öffentlichkeit vor allem ein Thema: Führt Israel nun indirekte Gespräche mit der PLO oder nicht? Ein Treffen zwischen Ministerpräsident Jizchak Schamir und dem palästinensischen Anwalt Jamil Tarifi aus der besetzten Westbank hatte die Debatte ausgelöst. Nachdem man zuvor solche Kontakte stets dementiert hatte, erklärten nun israelische Politiker, es gebe defninitiv indirekte Verhandlungen zwischen Israel und der PLO, die offiziell immer noch als „terroristische“ und daher nicht gesprächsfähige Organisation gilt. Ein Durchbruch schien erreicht, PLO-Chef Yassir Arafat zog prompt mit einem Vorschlag über Wahlen in der Westbank und dem Gaza-Streifen nach.

Von all dem ist nicht mehr die Rede. Statt dessen hat die Entführung des Schiiten-Scheichs Obeid einen neuen, für einige möglicherweise tödlichen Nervenkrieg ausgelöst. Der Zeitpunkt der israelischen Kommandoaktion hat eindeutig auch innenpolitische Gründe: Israel hat sich mit dieser Operation deshalb so weit vorgewagt, um von dem unliebsamen Thema der PLO-Gespräche abzulenken. Nicht umsonst gab sie Verteidigungsminister Jizchak Rabin höchstpersönlich bekannt - ein für die israelische Regierung höchst ungewöhnliches Vorgehen, wenn man an das amtliche Stillschweigen nach der Entführung des israelischen Atomtechnikers Mordechai Vanunu oder nach dem Mord an Arafats Vize Abu Jihad in Tunis denkt.

Und schon herrscht in der politischen Szenerie Israels, von taktischen Differenzen abgesehen, wieder die schöne alte Eintracht, die in der Frage eines nahöstlichen Friedensprozesses immer mehr Risse gezeigt hatte. Für die Regierung steht jetzt viel auf dem Spiel: Sollte es nach der Entführung Obeids tatsächlich noch zu einem Austausch von Gefangenen gegen Geiseln kommen, könnte Israel einen ungeheuren Prestigeerfolg verbuchen. Wer würde dann noch von einem gekidnappten Obeid, einem unter bislang unklaren Umständen ermordeten Higgins oder von toten und verletzten Palästinensern in den besetzten Gebiet reden?

Bushs indirekte Kritik

Das weiß auch die Regierung in Washington, wo Präsident George Bush mit der ersten Geiselkrise seiner Amtszeit konfrontiert ist. Bush hatte nach der Entführung Obeids erklärt, daß Geiselnahmen den Friedensprozeß in der Region nicht voranbringen - eine indirekte Kritik auch an Israel. Jerusalem konterte und gab öffentlich bekannt, die USA hätten ja sogar schon um Informationen über die Verhöre Obeids gebeten.

Ein Schlagabtausch an der Oberfläche allerdings, der es nicht erlaubt, eine grundsätzliche Krise zwischen Israel und den USA zu diagnostizieren. Zu sehr überschneiden sich die strategischen Interessen, zu stark sind die Gemeinsamkeiten in der Frage der Geiseln oder bei der Bekämpfung des „internationalen Terrorismus“. Die Differenzen beziehen sich einmal mehr auf die Wahl der von Israel eingesetzten Mittel und auf die Bewertung politischer Prozesse in der Region sei es die Palästina-Frage, sei es die Vermittlung der Arabischen Liga im Libanon.

In einer weiteren regionale Frage scheinen die USA und Israel allerdings im Vorfeld der Entführungsaktion bereits an einem Strang gezogen zu haben. Die Geiselnahme Obeids erfolgte nicht nur 48 Stunden nach dem Bekanntwerden des erwähnten Treffens zwischen Pälästinenser-Anwalt Tarifi und Ministerpräsident Schamir, sondern auch genau am Tag der Präsidentschaftswahlen im Iran.

Die Rolle des Iran

Washington wie Jerusalem setzten offenbar darauf, daß in der Nach-Chomeini-Ära und mit einem Staatschef Rafsandschani an der Spitze auch die Beziehungen Irans zum Westen überdacht und seine Rolle im Libanon einschließlich der Geiselfrage neu angegangen werden könnten. Israel zögerte nicht lange, die Probe aufs Exempel zu machen, löste bislang allerdings in Teheran nur die übliche Kontroverse innerhalb der Führung zwischen Hardlinern und Pragmatikern aus. Und bei solchen Anlässen wie israelischen Kommandounternehmen haben natürlich die revolutionären Sprüche der Chomeini-Ära wieder Hochkonjunktur.

Das gilt nicht nur für den Iran, sondern auch für die pro -iranischen Hizbollah im Libanon, die mit Israel einen ständigen Kleinkrieg führen. In der Vergangenheit haben radikale Schiitengruppen wiederholt auf Vorfälle wie den US -Angriff auf die libanesische Hafenstadt Tripoli mit der Ermordung von Geiseln reagiert. Die neuerlichen Morddrohungen gegen zwei weitere ausländische Geiseln entsprechen der inneren Logik dieser heiligen Krieger, und auch ein gefangener Scheich Obeid wird sie angesichts des verbreiteten Opfer- und Märtyrerdenkens nicht davon abhalten.

Bei den Erwägungen der Regierung in Jerusalem mag auch eine Rolle gespielt haben, daß sich jüngst verschiedene schiitische und palästinensische Gruppierungen zum Schulterschluß in Teheran getroffen haben. Israel, das nach wie vor einen Teil des Südlibanons besetzt hält und immer wieder Angriffe auch über seine „Sicherheitszone“ hinaus unternimmt, hat bewußt einen Soldarisierungseffekt vieler Libanesen riskiert, die sonst nichts von der radikalen Hizbollah halten - die aber empört sind, wenn die Regierung in Jerusalem im Libanon tut, was sie will, ohne daß ihr jemand Einhalt gebietet.

Israelische Politker rechtfertigen ihre Wild-West-Aktion in einer Verkehrung der tatsächlichen Verhältnisse mit der „Wildheit“ der libanesischen Verhältnisse, die andere als „konventionelle“ Methoden verlange. Diese „Wildheit“ ist zwar auch hausgemacht, aber eben nicht nur. Da agieren Israel und Syrien als Besatzer, da liefert Irak dem Christen -General Aoun Mittelstreckenraketen, die bis Damaskus reichen, da unterstützt Iran seine politischen Freunde auf der moslemischen Gegenseite, da haben die USA und andere westliche Staaten in den letzten Jahren nur zu oft ihre Finger mit im Spiel gehabt.

Internationalisierung

All diese Kräfte haben mit zur „Wildheit“ der Verhältnisse beigetragen, haben mit den Boden für Entführungen, Geiselnahmen und „internationalen Terrorismus“ bereitet, die Internationalisierung des libanesischen Bürgerkriegs ist längst zur Realität geworden.

Inwieweit der momentan einzige Lösungsversuch, die Libanon -Initiative der Arabischen Liga, von den jüngsten Ereignissen berüht wird, bleibt abzuwarten. Angesichts divergierender Interessen von Christen und Moslems, von Sunniten und Schiiten und ihren jeweiligen arabischen Hintermännern ist ein Rückschlag geradezu absehbar. Nur einer kann sich heute schon die Hände reiben: Michel Aoun, der Chef der libanesischen Christen, zu denen Israel traditionell gute Beziehungen unterhält. Seit der Ausrufung seines „Befreiungskrieges“ gegen die syrische Intervention hat er westliche Unterstützung für die „bedrohten Christen“ im Libanon eingeklagt. Jetzt, wo es neue Mordrohungen gegen Geiseln gibt, wo der arabisch-moslemisch-schiitische Terrorismus im Westen neu thematisiert wird, wo allseits nach einem Schulterschluß der „zivilisierten“ Welt gerufen wird, kann er nun auf mehr Unterstützung hoffen.

Die Kommandoaktion

Die israelischen Pläne für die Entführungsaktion, so heißt es, haben schon etwa drei Wochen fertig in der Schublade gelegen. Bei der Wahl des Zeitpunktes haben sicherlich viele Faktoren eine Rolle gespielt: der innenpolitische Streit in Israel, die Nach-Chomeini-Ära im Iran, die Lage im Libanon. Gleichzeitig sind dies die Punkte, an denen sich die Geister in Jerusalem und Washington scheiden. Die Bush -Administration, die in Tunis mit der PLO verhandelt, hat sich bislang aus dem Libanon-Konflikt völlig herausgehalten und damit der arabischen Vermittlung eine Chance gegeben. Gleichzeitig muß sie sich um ihre Geiseln sorgen - ein Thema, bei dem die Wogen auch unter Bushs Vorgängern immer hochschlugen, während den israelischen Soldaten sicher kein Haar gekrümmt werden wird - zu hoch ist ihr „Wert“ bei einem eventuellen Tauschgeschäft gegen libanesische Gefangene. Ungeachtet dieser unterschiedlichen Akzente hat sich Washington, etwa in der Palästinenserfrage, nie gegen die Politik Israels gestellt, sondern allenfalls einzelne Schritte kritisiert. Auch die Entführung Obeids hat diesem Muster keinen Abbruch getan.

Beate Seel