Casanova - die Last mit der Lust

■ Sex-Süchtige haben die „Contactstelle Anonymer Sex-Abhängiger“ gegründet / Wo beginnt die Lust zur Sucht zu werden?

„Hast du eine heimliche Sammlung von Pornoheften oder -videos? Benutzt du Sex als Mittel gegen Einsamkeit? Mußt du dir während des Geschlechtsverkehrs Bilder oder Szenen vorstellen, um dich zusätzlich zu erregen? Schwörst du dir selbst immer wieder, mit dem Fremdgehen, dem Bordellbesuch oder der Pornografie endgültig aufzuhören, schaffst es aber immer nur für eine kurze Zeit?“ So lauten einige Fragen aus dem Faltblatt der Selbsthilfegruppe „Casanova“, die Sex -Süchtigen helfen sollen, sich als solche zu erkennen. Die „Contactstelle Anonymer Sex-Abhängiger und Nebenorganisationen von Angehörigen“ besteht seit einem dreiviertel Jahr und arbeitet nach dem Prinzip der Anonymen Alkoholiker: Niemand muß seine Identität preisgeben, Fragen zur Person sind tabu.

Insgesamt 20 Personen haben bisher an der Gruppe teilgenommen. Was hat sie zu diesem Schritt bewogen? Keiner der derzeitigen Teilnehmer erklärt sich bereit, mit seinem Fall öffentlich auszupacken. Was in der Gruppe gesagt wird, unterliegt der Schweigepflicht. Die Regeln für das Gruppengespräch sind streng: Es darf nicht geurteilt, argumentiert oder diskutiert werden, niemand darf unterbrechen, und wer etwas zu sagen hat, muß sich vorher auf der Rednerliste anmelden. Auf den ersten Blick wirkt das „Gespräch“ wie eine Aneinanderreihung monologischer Bekenntnisse, die in eine aufmerksame Stille hineingesprochen werden. „Nur so entsteht eine wirkliche Offenheit. Die Regeln sind eine große Hilfe, gerade weil sie so schwer einzuhalten sind. Wir Süchtigen reden nämlich besonders gern über andere“, meint Ernst Zibull, einer der Initiatoren, beim anschließenden Kneipenbesuch.

Ab wann kann man sexuelles Verhalten als süchtig einstufen? „Das muß jeder für sich einschätzen. Natürlich kommt einer, der sich bis über beide Ohren verschuldet, um Puffbesuche zu finanzieren, eher auf den Gedanken, sexsüchtig zu sein, als einer, der vielleicht zweimal die Woche onaniert. Entscheidend ist allein der Grad der Freiwilligkeit.“ Wie bei der Sucht gibt es harte und weiche Varianten. So vielfältig die Palette der Suchterscheinungen, so ähnlich sind die dahinterliegenden Gefühle: Trauer, innere Leere, Einsamkeit und Angst vor wirklicher Nähe. (Das sind doch nicht nur Gefühle der Sex-Süchtigen, sondern von 99 Prozent der Gesamtbevölkerung, d.h. wir sind doch alle seelisch krank - d.S.)

Um die Sucht in den Griff zu bekommen, arbeitet die Gruppe mit einem Drei-Schritte-Programm, das um die Auseinandersetzung mit der Täter-Opfer-Rolle kreist. Entwickelt hat es der 40jährige Ernst Zubill aus langer Berufspraxis als Sozialpädagoge und als Selbst-Betroffener. Das Ziel: die volle Verantwortung für sein sexuelles Tun zu übernehmen, statt sich seinen Trieben ausgeliefert zu fühlen. Allerdings warnt er vor falschen Erwartungen an die Gruppe: „Die Teilnahme ersetzt keine Psychotherapie.“

Ob Sex-Sucht vornehmlich ein Männerproblem sei, will ich wissen. „Auch Frauen können sex-süchtig sein, obwohl die aktive Sucht bei Männer häufiger ist. Frauen sind oft süchtig danach, sich zum Opfer zu machen.“ Zur Zeit ist gerade eine Angehörigen-Gruppe im Aufbau, in der es um diese weibliche Seite der Sucht geht.

Sex als Sucht - nach dem Rauchen, dem Trinken und dem Autofahren nun die letzte Bastion des Vergnügens, die öffentlich gebrandmarkt wird? Safer Sex - der Katalysator beim Geschlechtsverkehr? „Mißverständnisse in der Öffentlichkeit sind vorprogrammiert. Weder sind wir Sex -Monster noch Moral-Apostel. Wir wollen nur weg von einer zerstörerischen hin zu einer lebensbejahenden Lust.“ Daß letztere in dieser Gesellschaft erst mühsam erlernt werden muß, darüber ist man sich einig. Schließlich sei noch kein Vergewaltiger vom Himmel gefallen. „Unsere Selbsthilfegruppe ist nur ein kleiner Anfang. Zur Zeit kommen auf jeden bekennenden Sex-Süchtigen Zehntausende, die sich für ganz normal halten“, schätzt ein anderer Anonymer die Lage ein.

Milano

„Casanova“ trifft sich jeden Mittwoch im SEKIS, Albrecht Achilles-Str. 65, Raum 2011, um 20Uhr. Kontakt: Ernst, Tel.: 785 62 95.