Der Krieg der IRA gegen die Eisenbahn

Schon achtundzwanzigmal war die Strecke von Belfast nach Dublin Ziel von Bombenanschlägen / Die Untergrundorganisation erprobt neue Bombentechnik / Mit EG-Zuschüssen soll jetzt eine Hochgeschwindigkeitsbahn entstehen / IRA will in den nächsten Wochen Angriffe auf britische Armee-Einrichtungen verstärken  ■  Aus Dublin Ralf Sotscheck

Der Schnellzug zwischen Dublin und Belfast hält in der südirischen Grenzstadt Dundalk. Der Bahnsteig ist jedoch leer. Wie so oft in diesem Jahr ist Dundalk die Endstation für den Zug. Ein Bahnangestellter in blauer Uniform und Schirmmütze läuft durch die Abteile und ruft: „Bitte alle aussteigen. Die IRA hat die Gleise wieder gesprengt.“ Dann weist er auf die vor dem Bahnhof wartenden Busse hin, die die Passagiere nach Newry auf die nordirischen Seite der Grenze bringen sollen. Für die meisten Reisenden, die regelmäßig mit der Bahn von Dublin nach Belfast fahren, ist die Prozedur bereits Routine. Lediglich ein Jungmanager mit schwarzem Aktenkoffer, der durch ein Kombinationsschloß gesichert ist, klagt mit Dubliner Akzent: „Oh Gott, jetzt kann ich meinen Geschäftstermin in Belfast wohl vergessen. Zum Teufel mit dieser gottverdammten Insel.“

Am Montag morgen hatte die Irisch-Republikanische Armee (IRA) den Streckenabschnitt nördlich der Grenze zum 27.Mal in diesem Jahr gesprengt. Am Nachmittag war der Schaden wieder repariert, doch schon eine Stunde später schlug die IRA zum 28.Mal zu. Darüberhinaus ist der Zugverkehr seit letztem Dezember durch unzählige falsche Bombenwarnungen lahmgelegt worden. Der Schaden beträgt über zwei Millionen Mark.

Die Bahnlinie führt durch den Süden der nordirischen Grafschaft Armagh. Diese ländliche Region ist in den letzten Jahren zum Hauptschauplatz des Krieges geworden, weil die „Sicherheitskräfte“ die nordirischen Städte mit elektronischen Überwachungsanlagen übersät haben. Zwar ist das britische „Sicherheitsnetz“ auch in Süd-Armagh sehr dicht, so daß fast jede Bewegung in dem 750qkm großen Gebiet registriert wird, doch gelingt es der IRA immer wieder, technisch hochentwickelte Bomben auf den Gleisen zu plazieren. Die Anschläge werden von der lokalen IRA-Einheit durchgeführt, weil „Ortsfremde“ leichter den Verdacht der Soldaten erwecken würden. Aus der Bevölkerung hat die britische Armee bisher keinen einzigen Hinweis auf IRA -Mitglieder oder deren Bombenanschläge erhalten.

Ein britischer Offizier sah deshalb seine Theorie bestätigt, daß sämtliche Einwohner Süd-Armaghs potentielle Feinde der „Sicherheitskräfte“ seien. Die Stützpunkte müssen durch Hubschrauber versorgt werden, weil Armeetransporte auf den Landstraßen ein Angriffsziel für die IRA abgeben würden.

IRA testet neue Bombentechniken

Die IRA begann ihre Offensive gegen die Bahnlinie am 16.Dezember letzten Jahres. In Sichtweite von drei Wachtürmen wurde die Kilnasaggart-Eisenbahnbrücke in die Luft gesprengt. Als die Brücke endlich wieder repariert war, schlug die Untergrundarmee im Februar erneut zu. Diesmal verwendete sie eine äußerst komplizierte Bombenkonstruktion: die Schienen dienten als Impulsgeber für die Zündung der Bombe. Sprengstoffexperten vermuteten deshalb, daß es Stunden gedauert haben mußte, die Bombe vor Ort zusammenzubauen und zu plazieren. Erst nach drei Wochen konnte die Strecke wieder freigegeben werden, doch bereits am nächsten Tag wurde sie an anderer Stelle durch einen weiteren Bombenanschlag lahmgelegt.

Einige Offiziere der britischen Armee glauben, daß die IRA den Krieg gegen die Eisenbahn benutzt, um neue Technologien zu testen. Ein IRA-Sprecher sagte dagegen, es gehe der Organisation bei ihrer Offensive darum, die britischen Soldaten aus ihren befestigten Stützpunkten herauszulocken, damit sie auf den unübersichtlichen Landstraßen angegriffen werden können. Die britischen Truppen sind in den letzten Jahren sehr vorsichtig geworden und haben die Herrschaft über Süd-Armagh praktisch der IRA überlassen. In den letzten zwei Jahren wurde nur ein Soldat getötet. Im März kam der SAS (Special Air-Service), das britische Äquivalent zur GSG -9, in Süd-Armagh vorübergehend zum Einsatz. Der britische Innenminister Douglas Hurd sagte nach einem weiteren IRA -Anschlag auf die Eisenbahnstrecke: „Die IRA-Mitglieder sind professionelle Killer. Sie müssen einfach ausgelöscht werden.“ Doch die zivilgekleideten SAS-Soldaten stellten sich so ungeschickt an, daß von einer Tarnoperation keine Rede sein konnte. In einigen Fällen klopften die SAS -Soldaten an Wohnungstüren und behaupteten, IRA-Mitglieder zu sein, die von ihrer Einheit getrennt worden waren. Sie wurden von den Bewohnern ausgelacht. Offiziell ist der SAS aus Süd-Armagh wieder abgezogen worden, doch Beobachter sind davon überzeugt, daß die Elitesoldaten noch immer in der Gegend stationiert sind.

Ende März nahm die nordirische Polizei mit ihren südirischen Kollegen Gespräche auf, um über gemeinsame Maßnahmen zu beraten, mit denen den IRA-Aktivitäten im Grenzgebiet ein Ende gesetzt werden soll. Auf dem Rückweg von einer Besprechung wurden die beiden nordirischen Beamten Harry Breen und Bob Buchanan auf einer Nebenstraße von der IRA gestoppt und erschossen. Die Opfer waren die beiden höchsten Polizisten, die im nunmehr 20Jahre dauernden Krieg von der IRA getötet wurden.

Pläne für Hochgeschwindigkeitsbahn

Jeder Tag, an dem die Bahnverbindung unterbrochen ist, kostet die nordirische Eisenbahngesellschaft 50.000Mark. Viele Unternehmen weichen inzwischen auf Lastwagen aus, um ihre Waren zu transportieren. Dennoch wurde jetzt beschlossen, 150 Millionen Mark in den Ausbau einer Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen Dublin und Belfast zu investieren. Ein Teil des Geldes soll aus dem Regionalfond der EG kommen. Mit der Schnellverbindung ab 1994 soll der Standortnachteil irischer Firmen etwas ausgeglichen werden. Die britische Armeeführung ist daher entschlossen, die Linie unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Jeder Anschlag ist ein Propagandaerfolg für die IRA, und die endgültige Schließung der Strecke käme einer Kapitulation gleich. Doch die Moral der britischen Truppen ist angeschlagen. Regelmäßige Patrouillen der Bahnanlagen sind zu gefährlich. Die Armee beschränkt sich nur noch auf sporadische Einsätze. In letzter Zeit verlassen die Soldaten ihre Kasernen nur noch im Schutz der Schulbusse. Nach Schulschluß kehren die Soldaten wieder in ihre Forts zurück.

Die Bahnlinie war schon in der Vergangenheit heiß umkämpft. 1976 verübte die IRA eine Serie von Anschlägen im Grenzgebiet. Der britische Fallschirmjäger Peter Morton erhielt damals den Auftrag, die Gleise unter allen Umständen zu schützen. Morton schreibt in seinem Buch „Emergency Tour“: „Der Einsatz der Männer, die Kosten und das Risiko standen in keinem Verhältnis zu dem ökonomischen Wert der Bahnlinie. Politisch war unsere Aktion jedoch bedeutsam.“ Auch der sozialdemokratische Abgeordnete Seamur Mallon glaubt, daß der Kampf um die Eisenbahn symbolischen Wert hat: „In dem Gebiet, glaubt die IRA ungestraft zuschlagen zu können.“ Jedoch legte keineswegs immer die IRA den Zugverkehr lahm. Morton schreibt, daß er selbst falsche Bombenwarnungen herausgegeben habe, um die Reisenden zu zwingen, die Straßen zu benutzen. Dort konnten sie leichter von Armeepatrouillen überwacht und durchsucht werden. Ein britischer Offizier gab im letzten Monat zu, daß er 2.000Soldaten benötige, um das Grenzgebiet unter Kontrolle zu bekommen. Doch das scheitert am Nachwuchsmangel der britischen Berufsarmee. Ein ehemaliger britischer Soldat, der sich aus der Armee freigekauft hatte, sagte bei einer Pressekonferenz in Dublin, daß jedes britische Regiment während eines Nordirlandeinsatzes ungefähr 40Soldaten durch Desertation oder Freikauf verliere. Seit Mai hat die IRA ihre Angriffe auf Soldaten und Armee-Einrichtungen verstärkt. Vermutlich wird die Organisation ihre Aktivitäten in den nächsten Wochen noch intensivieren, um an den 20.Jahrestag der Entsendung britischer Truppen im August zu erinnern. Doch wer könnte das in Nordirland vergessen haben? Die Bahnpassagiere sicher nicht.

Der Bus mit den verhinderten Zugreisenden hat inzwischen die Grenze erreicht. Der südirische Zoll interessiert sich nicht für das Fahrzeug, da in Nordirland ohnehin alles billiger ist. Schmuggel lohnt nur in umgekehrter Richtung. Der erste britische Kontrollpunkt kommt erst nach drei Kilometern.