Entführtes Kind aus der Türkei zurückgeholt

Nach einer Kindesentführung, Vergewaltigung und Mißhandlung wird in Hamburg diskutiert, wie Gewalt von linken Türken thematisiert werden kann, ohne Rassismus zu schüren / Türkisches Kneipenkollektiv wehrt sich gegen Boykott  ■  Aus Hamburg Gabi Haas

Die Entführung eines vierjährigen türkischen Jungen, die in Hamburg vor allem in der linken Szene für großes Aufsehen sorgte, ist vorerst glücklich beendet worden. Gemeinsam mit zwei Freundinnen gelang es der 36jährigen Nadire G., ihren von seinem Vater verschleppten Sohn Güney in einem Bergdorf nahe der syrischen Grenze aufzuspüren und wieder zurückzuholen. Der entscheidende Tip für das Auffinden des Jungen war von einem in der Türkei lebenden Mitglied der Familie des Vaters gekommen. Der Tip war zunächst bei der Polizei gelandet und von dort tagelang nicht an die Mutter weitergeleitet worden. Erst als Nadire G. in einer von der grün-alternativen Liste (GAL) anberaumten Pressekonferenz von der Entführung ihres Kindes berichtete und schilderte, daß sie danach von Güneys Vater, ihrem Exfreund Mesut A. mißhandelt und vergewaltigt worden war, konnte sich der Hinweisgeber mit seinen Informationen selbst an die Frau wenden.

Mit nervöser Unruhe wartete am Dienstag abend eine kleine Gruppe von Freunden und Pressevertretern am Hamburger Flughafen auf Nadire G. und ihren Sohn Güney. Die Spannung löste sich erst, als die beiden unter den letzten Reisenden der Chartermaschine aus Istanbul die Abfertigungshalle betraten.

„Gegenentführung“

Während Bekannte und Unterstützer Nadire im Krankenhaus wähnten, und der inzwischen mit Haftbefehl gesuchte Mesut A. ihre Freunde mit Drohanrufen terrorisierte, war sie mit zwei Freundinnen vor knapp einer Woche in die Türkei gereist, um den Hinweisen über den Aufenthalt ihres Kindes selbst nachzugehen. Auf die Spur war sie von einem Familienangehörigen ihres Exfreundes gebracht worden, der mit den Gewalttätigkeiten seines Verwandten offensichtlich nicht einverstanden war. Nach einer Odyssee über Tausende von Kilometern erreichten die Frauen schließlich den in den Bergen an der syrischen Grenze gelegenen kleinen Ort Sogukoluk, wo Mesuts Bruder Urlaub machte. In seinem Haus wurde Güney vermutet. Unter abenteuerlichen Umständen muß es dann zu einer Art Gegenentführung gekommen sein. Kinder lockten den Jungen zum Spielen auf die Straße, wo er von den Frauen dann geschnappt und in einem bereitstehenden Auto in Sicherheit gebracht wurde. Während ihrer Suche nach dem verschleppten Kind, so berichteten die Frauen, seien sie in der Türkei auf sehr viel Anteilnahme und Hilfsbereitschaft gestoßen.

Berechtigter Boykott

oder Sippenhaft

Unterdessen hat eine im Zusammenhang mit der Entführung gestartete Boykottaktion gegen das im Hamburger Stadtteil Altona gelegene Lokal „Pierrot“ innerhalb der Linken heftige Diskussionen ausgelöst. Nach den bisherigen Recherchen von Nadine G. soll ein Mitglied des türkischen Kneipenkollektivs an der Entführung ihres Sohnes beteiligt gewesen sein. Der vierjährige Güney bestätigte inzwischen, daß er während eines Wochenendbesuchs bei seinem Vater in die Wohnung von dessen Freund Mustafa G. gebracht wurde. Mustafa G. arbeitet im „Pierrot“, wo sein Bruder Mehmet Geschäftsführer ist. Mustafas türkische Freundin hatte Güney in die Türkei gebracht und ihn am Flughafen als eines ihrer drei Kinder ausgegeben. In der Türkei, so die bisherigen Informationen, soll sie das Kind einem Bruder Mesuts A.s übergeben haben.

Nach mehreren Gesprächen mit dem „Pierrot„-Geschäftsführer Mehmet G., einem Bruder Mustafas, gewannen die Frauen den sicheren Eindruck, daß dieser an einer Aufklärung des Falles nicht besonders interessiert sei und Mustafa sogar decke. Um die Herausgabe des Aufenthaltsorts der Mitentführerin und Freundin Mustafas zu erzwingen, rief daraufhin ein großer Kreis von UnterstützerInnen - unter denen übrigens türkische Organisationen fehlten - zu einem Boykott des in der linken Szene sehr beliebten Lokals auf. Im „Pierrot“ herrscht seitdem gähnende Leere. Während den BoykotteurInnen von Gästen der Kneipe inzwischen vorgeworfen wird, sie hätten leichtfertig eine ganze Familie kriminalisiert, Ausländerfeindlichkeit geschürt und die Existenzgrundlage des „Pierrot„-Teams vernichtet, wandte sich Geschäftsführer Mehmet G. selbst mit einem Flugblatt an die Öffentlichkeit. Er verurteilte darin die Vergewaltigung und Kindesentführung „aufs schärfste“, sein Bruder habe aber jede Beteiligung an der Entführung bestritten. Mit dem Boykott habe man „Sippenhaft“ betrieben.

Nadire G.und die sie unterstützenden türkischen und deutschen Frauen wollen das sich im Spannungsfeld zwischen Sexismus und Rassismus bewegende Thema öffentlich weiterdiskutieren. Mesut A., der jetzt der Kindesentführung und Vergewaltigung beschuldigt wird, war selbst in der linken türkischen Szene aktiv. Nadire hatte sich im letzten Jahr von ihm getrennt. Gemeinsam mit anderen türkischen Frauen hatte sie sich vor einigen Wochen mit einem eigenen Theaterstück an die Öffentlichkeit gewagt, in dem es um die Rolle türkischer Frauen in der Emigration geht. Auf einer geplanten Veranstaltung soll nun diskutiert werden, warum Nadire wochenlang über die Verschleppung ihres Sohnes geschwiegen hat, ob der „Pierrot„-Boykott richtig war und wie man sexuelle Unterdrückungsmethoden seitens linker türkischer Männer öffentlich vermitteln kann, ohne rassistische Ressentiments zu schüren.