Gladbeck-Verfahren als Schnoor-Falle?

Degowski-Verteidiger Bossi greift zum Essener Prozeßauftakt den nordrhein-westfälischen Innenminister heftig an: Ohne Schnoors Weigerung, freien Abzug zu garantieren, wäre alles anders gekommen  ■  Aus Essen Walter Jakobs

Der Münchener Glamour-Anwalt Rolf Bossi hat schon am ersten Tag des Prozesses gegen die Gladbecker Geiselnehmer den nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Schnoor für den Ausgang des Geiseldramas mitverantwortlich gemacht und ihm Verletzung des Diensteides vorgeworfen. Bossi, der den Angeklagten Dieter Degowski vertritt, sagte, es bestünde „kein vernünftiger Zweifel“ daran, daß die Geiseln freigelassen worden wären, wenn Innennminister Schnoor den Gangstern freien Abzug garantiert hätte. Aus Sorge um ihre beiden Angestellten habe die Leitung der Deutschen Bank die von den Geiselnehmern geforderten 300.000 Mark zur Verfügung gestellt und Innenminister Schnoor bekniet, den freien Abzug zu gewähren und im Rundfunk zu garantieren, daß sie 24 Stunden nicht verfolgt würden.

Wegen der Weigerung von Schnoor sei die Polizei dann auf die Strategie des „scheinbar verfolgungsfreien Abzugs“ verfallen. Bei freiem Abzug, so der Anwalt weiter, gäbe „es die Angeklagte Löblich nicht auf der Anklagebank“, und weder Rösner noch Degowski „wären des Mordes angeklagt“. Die „Durchsetzung des staatlichen Strafverfolgungsauftrages“ wäre für Bossi „auch nach gewährtem freien Abzug ein Kinderspiel gewesen“, weil die Täter inzwischen der Polizei bekannt und die erpreßten Geldscheine registriert gewesen seien. Die für Geiselnahmen anzuwendende Polizeidienstvorschrift 135 läßt allerdings nur den „scheinbar freien Abzug“ zu. Für Rechtsexperten ist fraglich, ob Schnoor überhaupt in seiner Entscheidung frei gewesen wäre, im Sinne der Bossi-Forderung 24 verfolgungsfreie Stunden den Geiselnehmern zu garantieren.

Elternhaus ein „Hurenhaus“

Die anderen Anwälte beschränkten sich am ersten Tag auf Fragen zur Person der Angeklagten. Die Kindheit von Rösner und Degowski, die beide gemeinsam die Sonderschule in Gladbeck besuchten, sei von brutalen Gewaltverhältnissen in den jeweiligen Familien geprägt gewesen. Vom ständig „besoffenen“ Vater „hab‘ ich reichlich auf die Fresse bekommen“, sagte Degowski. Alkoholisiert und immer wieder zuschlagend hat auch Rösner seinen Vater in Erinnerung. Das Elternhaus, so der Kopf des Trios, sei ein „Hurenhaus“ gewesen. Ständig habe der Vater Frauen mit nach Hause geschleppt, und wenn seine Mutter was gesagt habe, „hat sie was auf den Schädel bekommen“.

Aus ähnlich desolaten Familienverhältnissen, stammt auch die Angeklagte Marion Löblich. Weil sich weder Vater noch Mutter um sie kümmerten, war sie schon sehr früh auf sich allein gestellt und mußte sich zusätzlich um die Versorgung ihrer Geschwister kümmern. Die dienende, unterordnende Rolle spielte Frau Löblich nach eigener Aussage dann auch während ihrer drei Ehen. Der letzte Ehemann habe Frau Löblich behandelt „wie ein Stück Dreck“, sagte Rösner, in dessen Arme sich die milieugeschädigte Frau zuguterletzt flüchtete. Zu ihrem Verhältnis zu Rösner schwieg sich Frau Löblich am ersten Tag aus.

Rösner, der zuletzt mit Löblich zusammenwohnte, schilderte dem Gericht, beide hätten zunächst zuversichtlich einen Neuanfang versuchen wollen, seien dann aber „durch Tabletten und Alkohol tierisch abgerutscht“. Schon im Kindes- und Jugendalter drehte Rösner „eine krumme Sache“ nach der anderen. Ohne die elf Jahre Knast ist das spätere Verhalten beim Geiseldrama wohl nicht zu erklären. In der JVA Werl kam Rösner zum erstenmal mit Aufputschmitteln in Kontakt. Zum Schluß, im Sommer 1988, kurz vor dem Gladbecker Verbrechen, nahm Rösner täglich zehn bis zwölf Tabletten Vesparax. Das Medikament, mit dem eigentlich Schlafstörungen behandelt werden, wirkt in Verbindung mit Alkohol wie ein Aufputschmittel. Auf ihn hätten die Pillen „astrein“ gewirkt. Dem Richter erklärte der Angeklagte sein Gefühl so: „Das ist so, als wenn Sie vor dem Weihnachtsbaum stehen.“

Freundschaft gestört

Das ehemals freundschaftliche Verhältnis des Trios scheint nach dem Geiseldrama inzwischen nachhaltig gestört. Beim Eintritt in den Gerichtssaal würdigten sich die drei keines Blickes. Es wird vermutet, daß sich die Angeklagten bei der Tatschilderung gegenseitig beschuldigen werden, den Todesschuß auf Silke Bischoff abgegeben zu haben. Die Mutter von Silke Bischoff tritt in Essen ebenso als Nebenklägerin auf wie die Eltern des ermordeten jungen Italieners Emanuele Giorgi und die bis zuletzt als Geisel festgehaltene Bremerin Ines Voitle.

Kritik von Journalisten

Wie erwartet stieß der Prozeß am Mittwoch auf ein Rieseninteresse. Längst nicht alle Zuschauer und Journalisten, die teilweise schon drei Stunden vor Prozeßbeginn um 6 Uhr vor dem Gebäude eintrudelten, wurden eingelassen. Ein Besucher übernachtete sogar im Schlafsack vor der Tür. Auf heftige Kritik stieß die Zulassungspraxis bei den Journalisten. Nachdem die Pressestelle des Landgerichtes auf Anfrage immer wieder mitgeteilt hatte, es gebe keine Einlaßkarten und keinerlei Reservierungen, erlebten die verdutzten, zur Tür drängelnden Kollegen, wie der Pressesprecher Pohl etwa drei Dutzend namentlich aufgerufene Journalisten bevorzugt zu den begehrten Plätzen schleuste. Von der zuvor ausgegebenen Devise „Wer zuerst kommt, malt zuerst“ blieb nichts mehr übrig. Ob das willkürliche Verfahren beibehalten wird, steht dahin. Der Vorstand der Düsseldorfer Landespressekonferenz und einzelne Journalisten wollen offiziell Beschwerde gegen das unfaire Verfahren einlegen.

Während alle übrigen überregionalen Blätter bevorzugt eingelassen wurden, blieb auch die taz zunächst draußen. Kommentar des Pressesprechers: „Tut mir leid, ich hab‘ Sie übersehen. Kommen Sie doch am 8. August wieder.“ Eine Stunde nach Prozeßbeginn wurde dann auch die taz zugelassen.