Revolution als Manna der Neurastheniker

■ Heinar Kipphardts nachgelassene Tupamaro-Fragmente

Mitte Mai wurde der Gründer der uruguayischen Stadtguerilla, Raul Sendic, in Montevideo von 15.000 Menschen zu Grabe getragen. An den Spätfolgen der jahrelangen Militärhaft war der Mann gestorben, der in den sechziger Jahren die spektakulären Aktionen der Tupamaros bestimmt hatte. Als Anfang 1971 über hundert Guerilleros aus dem Gefängnis Punta Carretas flohen und mangels Austauschobjekten der entführte britische Botschafter freigelassen wurde, nahm Oppenheimer-Autor Heinar Kipphardt, damals Chefdramaturg der Münchner Kammerspiele, die Meldung zum Anlaß, sich mit dem Stadtguerilla-Konzept zu befassen, das seit kurzem von der „Roten Armee Fraktion“ adaptiert wurde. In Kipphardts Nachlaß finden sich umfangreiche Teile des Stückes, in dem Raul Sendic eine zentrale Rolle spielt, dessen Titel ein Zitat des Tupamaro-Chefs aufnimmt: „Warten auf den Guerillero?“ Das Fragezeichen allerdings stammt von Kipphardt.

Peter Schneider hat zu Recht gesagt, daß die Idee vom bewaffneten Kampf in den Metropolen keineswegs in den Hirnen isolierter Einzelkämpfer entstanden, sondern von Anfang an im Gedanken- und Gefühlsstrom der 68er-Generation mitgeschwommen ist; als dann die RAF Ernst machte, trat an die Stelle des theoretischen Flirts mit dem bewaffneten Kampf eine hastige Abgrenzung. Wenn Kipphardt nach den „Möglichkeiten der Revolution“ angesichts der „Übermacht der Unterdrückungsapparate“ fragt, bewegt er sich in dieser Diskussion: Das Tupamaro-Stück „beschäftigt sich mit Revolutionären, einer Sorte von Leuten also, die nicht daran zweifeln, daß diese sehr gewalttätige Welt verändert werden muß und daß sie nur auf revolutionäre Weise erträglich gemacht werden kann“.

Doch die Arbeit brach Kipphardt bald ab. Die Thematik schien ihm in der Zeit allgemeiner Terroristenhysterie auf dem Theater nicht mehr behandelbar. Der Abbruch steht jedoch auch für die Enttäuschung der Hoffnungen auf gesellschaftliche Umgestaltung, ist der Versuch, die eigene widersprüchliche Position aufzulösen, Konsequenz der Einsicht, daß die politische Praxis eines Schriftstellers seine Arbeit ist. Kipphardts Desillusionierung äußert sich in jahrelangem Verstummen, in der Suche nach einer tragfähigen produktiven Position, die er schließlich in seinem März-Projekt findet, der Passion eines schizophrenen Künstlers.

Als Kipphardt sich mit den Tupamaros beschäftigt, sind die Mitglieder des 1962 gegründeten „Movimiento de Liberacion Nacional“, die als Tupamaros seit dem Amtsantritt des Präsidenten Jorge Pacheco Areco 1967 das System der Repression gewaltsam bekämpft haben, bereits geschlagen. Erinnern wir uns: Die ökonomische Situation in Uruguay hatte sich seit der Interamerikanischen Wirtschaftskonferenz 1961 verschärft. Es war zu zahlreichen Arbeitskämpfen und zunehmender Radikalisierung gekommen. Mit dem Präsidenten Pacheco Areco begann 1967 eine massive Repression. Die linken Parteien wurden verboten, ein rigoroses Sparprogramm verordnet. Als 1969 Streik auf Streik folgte und die Studenten und Arbeiter auf die Straße gingen, wurden die Universitäten geschlossen, die verfassungsmäßigen Rechte aufgehoben und der Ausnahmezustand erkärt. Im Lande kam es zu Geiselnahmen, bewaffneten Auseinandersetzungen, Straßenschlachten, Hinrichtungen. 1972 wurde von dem neuen Präsidenten Bordaberry der „innere Kriegszustand“ ausgerufen, und die Staatsmacht ging mit allen Mitteln vor. Die meisten Anführer der Tupamaros wurden ermordet oder gefangengesetzt. Sendic wurde erst 1985 nach dem Rückzug des Militärs entlassen. Heute sind die Tupamaros Teil des Linksbündnisses Frente Amplio.

Kipphardts Stück Warten auf den Guerillero? ist die Geschichte eines Geschäfts: der auf authentischen Dokumenten basierenden Entführung des Industriellen Pereyra Reverbel im Juli 1968 durch die Tupamaros.

Im Amtssitz des Präsidenten Pacheco Areco einigt man sich auf „die wirtschaftliche Rettung des Landes“ angesichts des rückläufigen Fleischgeschäfts: Abwertung, Kreditbeschränkung, Lohnstopp, Subventionsstopp, Schließung auch des Frigorifico Nacional, der prosperierenden staatlichen Fleischfabrik, damit ein internationales Konsortium 285 Millionen Dollar in die Fleischindustrie investiert. Zur gleichen Zeit überfallen Tupamaros in Polizeiuniform das Spielkasino in Punta del Este, beschlagnahmen die Spielgelder, arretieren die Gäste, unter ihnen die Schwester des US-Botschafters, zahlen die Trinkgelder aus. „Dumm sind die Burschen nicht“, kommentiert Reverbel. „Natürlich lacht das Land! Wer die Gewalt im Keime nicht zerschlägt, kommt in ihr um.“

Hat Kipphardt in dieser Exposition die Machtverhältnisse im Land blitzlichtartig verdeutlicht, so gibt er anschließend den Bericht über die Arbeitskämpfe und den Bürgerkrieg im Frühjahr 1969. Augenzeugen schildern, wie Militär und Polizei mit beispielloser Härte vorgehen. Die Mitteilung, Reverbel, der „Henker der Arbeiter“, sei von einem Tupamaro -Kommando entführt worden, läßt Kipphardt Sendic im Fußballstadion verlesen, in der Halbzeit des Pokalendspiels der lateinamerikanischen Landesmeister: „Die Vertreter des Regimes müssen wissen, daß ihre Verbrechen nicht straflos sind.“

Die Schauplätze wechseln dann zwischen Reverbels Versteck und dem Präsidentenpalast in Montevideo. Wechselnde Personen vernehmen den Entführten, erhalten Beweise für den allgegenwärtigen Machtmißbrauch. Die Frau eines seiner Opfer beschimpft ihn in revolutionärem Zorn: „Deine Zeugen, deine Polizei, deine Gerichte, deine Gesetze und außer ihnen ich und diese Parabellum, mit der ich in deinen Kopf schieße, deine Kehle und deine Hoden, wenn es soweit ist und von dir bleiben wird, dem mächtigen Reverbel, der Gestank auf einer Müllkippe.“

Präsident Pacheco Areco fürchtet Reverbels Enthüllungen. Reverbel droht, das Ultimatum nicht verstreichen zu lassen. „Es wäre mir sonst schmerzlich, von Dingen zu reden, die besser zwischen uns geblieben wären.“ Der Präsident schaltet den US-Botschafter und den CIA-Agenten Dan Mitrione (1970 entführt und nach der ersten Verhaftung Sendics erschossen) ein, der es als entschieden ansieht, „die Bedingungen der Terroristen nicht zu erfüllen“. Was man braucht, weigern sich die Tupamaros zu liefern: „Die Leiche Reverbels, hier ausgestellt, Abscheu erregend vor dem Schrecken der Gewalt, dem Meuchelmord, der uns die Hände frei gibt, reinen Tisch zu machen.“ „Alle bisherigen Aktionen der Terroristen zielten ins Populäre, auf die Sympathie, wenigstens das Verständnis der Mehrheit der Bevölkerung, besonders der Gewerkschaften. Mehr als ein toter interessiert ein redender Reverbel.“ Wenn Pacheco die verhafteten Arbeiter freilasse, verliere er die Macht, das liege nicht im amerikanischen Interesse. Mitriones Vorschlag: „Armee und Polizei stülpt diese Stadt hier um wie eine Tasche. Aufhebung aller Bürgerrechte für die Zeit der Aktion, Verhaftung der Sympathisanten.“ Als Reverbel, von den Tupamaros freigelassen, unerwartet im Palast auftaucht, spuckt er empört Mitrione an: „Ist jemand hier, der mir noch ins Gesicht sehen kann?“ Pacheco erkennt: „Du ruinierst uns alle!“ Aber Reverbel gibt zurück: „Nachdem es meinen Freunden nicht gelungen ist, mich umzubringen, will ich das.“ Pacheco will einen Staatsakt, Reverbels Verhalten habe den „Triumph der Gerechtigkeit“ ermöglicht. „Die Basis des Triumphes ist, ich bürge. Alle verhafteten Arbeiter werden wieder eingestellt, und ich zahle eine Million Dollar in die Streikkassen des Frigorifico Nacional“, stellt Reverbel klar.

Raul Sendic und Violeta Setelich geben in Interviews Auskunft, warum Reverbel freigelassen worden ist: „Die Bevölkerung erfuhr aus Reverbels Munde, was mit den Herren ist, die sie regieren, und wer der Herr dieser Herren ist. Das Prinzip hätte von uns gefordert, Reverbel hinzurichten, aber das hätte der Regierung die Konfrontation gebracht, die sie wünscht, das hätte uns von den übrigen Kräften des Widerstandes getrennt, namentlich von den Gewerkschaften.“

Möglicherweise wollte Kipphardt im dritten Teil des Stückes untersuchen, ob sich die Tupamaro-Erfahrungen ohne weiteres auf die Verhältnisse entwickelter europäischer Industriestaaten übertragen lassen. Geplant war die Darstellung der Mitrione-Entführung, der Verhaftung Sendics und des schließlichen Sieges der Repression. Im zweiten Teil wollte er exemplarisch eine Tupamaro-Aktion schildern, der ein tatsächliches Ereignis zugrundeliegt: Im Oktober 1969 eroberte die MLN in einem Handstreich die 30.000-Einwohner -Stadt Pando.

Kipphardts Tupamaro-Projekt ist als sein Beitrag zu der Anfang der siebziger Jahre in der westdeutschen Linken hitzig geführten Strategiedebatte klar in seiner Zielsetzung: Die Stadtguerilla ist für den Kampf unter den Bedingungen entwickelter Industriestaaten nicht analogiefähig, ist ein untaugliches Konzept.

Als Kipphardt an den Stoff ging, waren in Uruguay die Tupamaros der staatlichen Macht erlegen, obwohl doch ihre Aktionen „ins Populäre“ zielten, „auf die Sympathie, wenigstens das Verständnis der Mehrheit der Bevölkerung, besonders der Gewerkschaften“, wie immer wieder betont wird. Die Hinrichtung des entführten Reverbel als eines Repräsentanten des Systems der Repression hätte den Widerstand geschwächt und dem Regime den willkommenen Vorwand für weitere Gewaltmaßnahmen gebracht. Erfolgversprechend, so hätte das Stück zeigen können, ist einzig eine revolutionäre Massenbewegung, nicht aber das auf individuelle Terrorakte setzende Konzept etwa der RAF, zumal in einem Land, in dem von einer revolutionären Situation nicht die Rede sein kann.

Das Tupamaro-Projekt zeigt aber nicht nur Kipphardts Sympathie für die Stadtguerilla. Sein Abbruch unter dem Eindruck der ersten RAF-Morde beweist auch die Fähigkeit, die eigene Desillusioniertheit produktiv zu wenden und sich mit den gewandelten Bedingungen auseinanderzusetzen. Insofern liegen die Gründe für den fragmentarischen Charakter des Stoffes tiefer. Die „Guerillero„-Thematik, genauer: die Frage nach den Möglichkeiten der revolutionären Veränderung gesellschaftlicher Bedingungen, ist für Kipphardt kein erledigtes Thema. Das Stück weist voraus auf März, die Geschichte vom Scheitern des Revolutionärs, wo es heißt: „Das Problem der Wahrheit, das Problem des Wahnsinns und das Problem der Revolution sind ein und dasselbe Problem.“ Aufschlußreich ist der Dialog des ehemaligen Priesters Indalcio mit Reverbel in dessen Versteck. Bitter klagt Reverbel: „Die Genossen haben zugestimmt. Mit Öl des Bruders Stirne zu markieren, in die der Bruder Mörder schießt? Genosse Terrorist! Genosse Priester! Warum schoß Jesus sich nicht frei in Gethsemane? Und organisierte eine Stadtguerilla? Warum wurde Lazarus nicht liquidiert? Wozu Barmherzigkeit?“ Als Indalcio erwidert, in dieser Zeit sei „die Barmherzigkeit die Revolution“, redet sich Reverbel in Rage: „Mich umzulegen nachts, die Tat des Samariters. Die Bibel weg, Bruder, schnell, schieß, denn unselig sind die Sanftmütigen und unselig die Barmherzigen und unselig die Friedfertigen lehrt Jesus in Montevideo! Räum deinen Nächsten weg!“ Indalcio betrachtet den Gefangenen lange: „Reverbel, die Hände zusammengebunden, die Augen mit Verbandsstoff verklebt, ein Sinnbild der leidenden Menschheit“, wendet sich ihm zu. Doch Reverbel schimpft, er erinnere ihn „an diese reinen Engel des Heiligen Offiziums“. „Die Mündungen der Pistolen leckend als wärs der Leib des Herrn. Die Revolution als Aphrodisiacum. Revolutionäre Gewalt, das Manna der Neurastheniker.“

Was der Geschäftsmann Reverbel seinen Entführern unterstellt, ist seine eigene christlich verbrämte Denkweise der Geschäftswelt. Die Botschaft des Neuen Testaments hat nur solange Bestand, wie sie den Gang der Geschäfte nicht stört. Christus als revolutionärer weltlicher Erlöser ist für ihn unvorstellbar, daß der Nächste mehr ist als Objekt der Ausbeutung, kommt ihm nicht in den Sinn. Er ist ein Drahtzieher des Verbrechens, und dennoch wendet sich der Guerillero ihm zu, sieht in ihm das Symbol der leidenden Menschheit: Ecce Homo. Im Täter erkennt er das Opfer, im Feind den Bruder: Der Brudermörder als „Bruder Mörder“, Hinweis auf Kipphardts letztes Stück, Bruder Eichmann.

Reverbel versteht die frohe Botschaft nicht. Doch kommt der Handel zustande, weil der Mensch Reverbel seinen Warencharakter verliert und den wahren Charakter seiner ehemaligen Geschäftspartner erkennt. Die Haltung der Guerilleros ermöglicht Reverbel die Änderung seiner eigenen Haltung, auch wenn er darin nur einen Vorschuß auf die Barmherzigkeit der Revolution sehen mag.

Walter Karbach