Das Ende der zweifelhaften Solidarität

Ungarn erwägt Asylrecht für DDR-Flüchtlinge  ■ K O M M E N T A R E

DDR-Bürger erhalten politisches Asyl in Ungarn - eine Ente, über die man lachen könnte, hätte man sich nicht schon an die Normalität des Unglaublichen in den sozialistischen Ländern und ihren Beziehungen untereinander gewöhnt. Selbst wenn noch offen bleibt, wann Ungarn sich angesichts einer wachsenden Zahl von ausreisewilligen DDR-Bürgern zu dieser spektakulären Maßnahme entschließt - die jetzt offiziell bestätigte Prüfung allein markiert eine neue Qualität; sie ist nicht nur ein weiterer Beleg für das Auseinanderdriften der ehemaligen Blockpartner, sondern bezeichnet deutlicher als bisher die Brüchigkeit der Kompromißformel, mit der man innerhalb des Warschauer Paktes bislang noch die offensichtlichen Risse kitten und legitimieren konnte: das Recht auf eigenständige nationale Entwicklung zum Sozialismus. Denn wenn die Ungarn den DDR-Bürgern bald ihre Grenze nach Österreich öffnen, läßt sich die DDR-eigene Sozialismusvariante mit ihrem konstitutiven Freizügigkeitsverbot eben nicht unbeschadet weitertreiben.

Auch ohne den Abbau des Eisernen Vorhangs bedeutete die Eigenständigkeitsgarantie, die der DDR, der CSSR und Rumänien das Recht auf die alte Politik - vorübergehend noch - belassen sollte, nur eine schwache Kompensation für die verunsicherten Hardliner. Denn mit den Folgen der Reformpolitik haben sie seit deren Beginn zu kämpfen: wirtschaftlich durch die wachsenden Moskauer Ansprüche auf international konkurrenzfähige Produkte auch im innersozialistischen Austausch - ökonomischer Reformdruck inbegriffen. Bedrohlicher sind die ideologischen Folgen der Öffnung. Plötzlich geraten auch jene unter Argumentationszwang, deren Politik vorab auf der Verweigerung rationaler Begründung und demokratischer Legitimation gründet. Neben den alten Gespenstern aus dem Westen tauchen fast täglich neue aus dem Osten auf Wahlgesetze, Parteigründungen, Verhandlungen an runden und dreieckigen Tischen -, die auch in den reformunwilligen Ländern neue Dynamik in die oppositionelle Bewegung bringen.

Die mühsam unter der Decke gehaltenen Konflikte zwischen den sozialistischen Ländern resultierten aus solchen indirekten Folgen der neuen Politik. Mühsam, aber immerhin wurden die schon nicht mehr recht brüderlichen Formen des Umgangs gewahrt. Wenn Ungarn allerdings demnächst DDR -Bürgern politisches Asyl gewährt, wäre das ein Schritt, der als „unfreundlicher Akt“ wohl nur euphemistisch umschrieben wäre. Ein solcher Schritt würde bedeuten, daß Ungarn nicht länger als Sicherungsorgan einer Politik zu fungieren gedenkt, deren Formen und Ziele im eigenen Land nicht mehr gelten. Ungarn kündigt die zweifelhafte Solidarität.

Für die DDR wird damit der Handlungsspielraum enger, der Prozeß der Abschottung könnte vollends absurde Formen annehmen. Was bisher bloß als Metapher gehandelt wurde - die Mauer nach Osten - könnte bald Realität werden. Ein Reiseverbot nach Ungarn für das Gros der DDR-Bürger wird jenseits des internationalen Ansehensverlustes - die Unzufriedenheit im Land weiter anheizen. Einfacher und risikoloser wäre es für die SED, sich zu einer Politik durchzuringen, in deren Perspektive nicht die Errichtung neuer, sondern der Abbau der alten Grenzzäune läge.

Matthias Geis