Großbritannien: Kein Platz in der Schule

■ Im Londoner Stadtteil „Tower Hampton“ sitzen 280 ausländische Kinder auf der Straße, weil es nicht genug LehrerInnen gibt / Niedrige Entlohnung hat das Unterrichten unattraktiv gemacht / Die Thatcher-Regierung sucht im Ausland nach Lehrkräften

Sei einem halben Jahr wartet der sechsjährige Abu-Said Hussein darauf, eingeschult zu werden. Sein Spielkamerad Abu Sadiq, der im selben tristen Wohnblock lebt, steht bereits seit 18 Monaten auf der Warteliste. Die beiden schulpflichtigen Kinder leben in einer der ärmsten Gemeinden Großbritanniens - „Tower Hamlet“ im Londoner East End, wo derzeit 280 Kinder keinen Schulplatz haben. Hier, wo einst Jack the Ripper sein Unwesen trieb, haben zum Schuljahresende ein Drittel der 850 GrundschullehrerInnen die Kündigung eingereicht. Wenn nicht ein Wunder geschieht, werden im Herbst etwa 1.000 Kinder ohne LehrerIn sein.

Schon seit Jahren hält die Gemeinde Tower Hamlet ihre Verpflichtung, allen Kindern ab fünf Jahren eine Schulausbildung zu sichern, nicht ein. Die wenigen Schulen sind mit LehrerInnen unterbesetzt, die Klassen überfüllt. Einige Kilometer vom Ortskern entfernt hat die Gemeindeverwaltung zwar in den Docklands neben einer schicken Reihenhaussiedlung eine nagelneue Schule bauen lassen. Aber die ist nicht einmal zur Hälfte ausgelastet, „weil wir bisher nur fünf LehrerInnen gefunden haben“, berichtet die Leiterin der „Hermitage-School“, Ann Mason.

Der LehrerInnenmangel ist nicht der einzige Grund. Die Kinder ohne Schulplatz kommen mit ganz wenigen Ausnahmen aus Bangladesch. „Ihre Mütter sprechen kaum englisch. Sie haben viele Kinder, und sie befürchten rassistische Belästigungen.“ Ann Mason hat Verständnis dafür, daß sie ihre kleineren Kinder nicht in entfernte Schulen bringen können. Den Transport im Schulbus hat die Gemeinde aus Kostengründen eingestellt.

Rassistische Hintergründe für die Schulkrise in Tower Hamlet vermutet Kumar Murshid, der Sprecher der unlängst gegründeten Bürgerinitiative „Tower-Hamlet-Kampagne für Erziehung“: „Wenn es weiße Mittelschicht-Kinder wären, die keinen Schulplatz hätten, wäre bestimmt alles anders. Aber die Regierung macht sich nicht sonderlich viele Sorgen um einige hundert bengalische Kinder im Londoner East End.“ Zwar sind in Tower Hamlet bisher keine weißen Kinder ohne Schulplatz, doch von dem LehrerInnenmangel sind sie auch betroffen. Eine jüngst veröffentlichte Umfrage zeigt, daß an 52 Prozent aller staatlichen Schulen Großbritanniens Planstellen unbesetzt sind. In England und Wales sind es insgesamt 5.600. In London ist die Situation am schlimmsten. Die Schulbehörde sucht für das kommende Schuljahr, das im September beginnt, etwa 1.000 LehrerInnen für die ärmeren Gegenden der Stadt.

Die SchulleiterInnen in Tower Hamlet befürchten in der Folge des Personalmangels jetzt auch einen Leistungsrückgang: Zwar hat das Parlament im vergangenen Jahr ein verbindliches nationales Curriculum beschlossen, um den bekannt niedrigen Standard der britischen Schulen zu verbessern. Doch in Tower Hamlet fehlen schon jetzt die LehrerInnen, um die obligatorischen Kernfächer wie Englisch, Mathematik, Chemie, Physik und Technologie zu unterrichten. Selbst das Erziehungsminsterium rechnet damit, daß Mitte der 90er Jahre im ganzen Land 12.000 Mathematik- und 3.500 PhysiklehrerInnen fehlen werden.

Es sieht so aus, als würde Großbritannien neben der schon existierenden Spaltung von privater und staatlicher Erziehung auch auf eine Zweiklassenbildung im öffentlichen Schulwesen zusteuern: Die ärmeren Gemeinden, in denen wiederum der Anteil an Nichtweißen besonders hoch ist, werden nicht in der Lage sein, durch finanzielle Sonderangebote und Vergünstigungen genügend Lehrer anzulocken.

Daß schon jetzt so wenige den Lehrerberuf ergreifen, liegt nicht an mangelnden Studienplätzen. Etwa 400.000 Lehramtsstudenten haben nach dem Examen in den letzten Jahren einen anderen, besser bezahlten Beruf gewählt. Auch David White, einer der fünf LehrerInnen in der Hermitage -School, hat nicht vor, länger als ein Jahr an der Schule zu bleiben. „Ich mache hier mein Referendariat - und dann nichts wie weg“, sagt er. „Vom Lehrergehalt kann ich mir in London weder eine Monatskarte geschweige denn eine anständige Wohnung leisten.“

Die Thatcher-Regierung hat erheblich dazu beigetragen, daß der Beruf so unattraktiv geworden ist. Während die Löhne und Gehälter in der Wirtschaft in die Höhe schnellten, werden die LehrerInnen seit Jahren mit Gehaltserhöhungen unter der Inflationsrate abgespeist. Das Monatsgehalt für JunglehrerInnen ist mit 570 Pfund (1.800 D-Mark) ohnehin gering.

Anfang Juni lehnte der damals noch als Erziehungsminister amtierende Kenneth Baker die Forderung von Eltern aus Tower Hamlet ab, Geld für die Anwerbung von LehrerInnen in dem Bezirk lockerzumachen. Auch die gemeinsam von konservativ wie Labour-regierten Gemeinden unterstützte Idee einer sofortigen Interims-Gehaltserhöhung wies er ab.

Das kleine Problem, das selbst Baker nicht leugnen kann, meint die Regierung auf andere Weise lösen zu können: Sie zieht über die Dörfer. In Hongkong versucht sie 2.000 LehrerInnen für Großbritannien anzuheuern, und nach Holland und in die BRD hat die Londoner Schulbehörde Werber gesandt.