Leistungsfrohe Endzeit-Stalinisten

■ Gestern war der Auftakt des Jahreskongresses der Berliner Zeugen Jehovas / Drei Tage verordnetes Massenflehen in der „Anbetungsstätte“ Deutschlandhalle / Immer mehr junge Leute zieht es zu den „Zeugen“

Durch die Gänge und das Rund der Halle zieht der säuerliche Geruch von Graubrot. Kleinfamilien suchen in disziplinierter Formation ihre Plätze auf, jeder hat seinen hellbraunen sogenannten „Tagesbeutel“ dabei, der vorn im Foyer ausgegeben wird. Der Inhalt der Verpflegungstüten wird an jedem Kongreßtag nur minimal variiert - genauso wie das Kongress-Thema „Gottergebenheit“. („Gottesfurcht ist gesunde Furcht, Gottesergebenheit ist Herzensfreude, so zu leben, wie es Gott gefällt.“) Vor dem „Stillraum“ stauen sich die Kinderwagen, es sind erstaunlich viele junge Zeugen hier, aber vielleicht sind die ältlichen Eckensteherinnen, die man von den U-Bahnhöfen kennt einfach längst schon auf ihren Plätzen? Michael Haupt, Mitarbeiter des Sektenbeauftragten der katholischen Kirche bestätigt den Verjüngungstrend von den Jehova-Zeugen. Keine Frau trägt Hose, Mann steckt im Anzug, möglichst mit Krawatte, die Kinder sind zu kleinen Statussymbolen herausgeputzt.

Aus den Lautsprechern quillt lauwarme Erweckungsmuzak, die Klatsch und Tratsch nicht duldet, ganz viel Geigen, ein bißchen Trompete. Ein Graumann, der Berliner Ober-Zeuge, betritt die riesige leere Bühne. Auf den Rängen werden die 5.000 nun noch stiller als vorher. Schon der erste Gruß wird abgelesen „Willkommen Ihr Menschen von Gottergebenheit.“ Keinerlei Jauchzen. „Seid Ihr glücklich, hier zu sein?“ Kein Sportpalast-Ja, nur verhaltenes Klatschen. Wenn die Auserwählten Jehovas zusammenkommen, wird nicht diskutiert, nicht gescherzt, da tollen die Kinder nicht herum. Es dominiert stille Verkniffenheit. Nur Selbstbeherrschung, Schicklichkeit und stalinistisches Nachleben der Glaubenssätze aus dem ersten christlichen Jahrhundert führen ins Reich Gottes. Der ist ein furchtbarer, kein gütiger Übervater. Quasi täglich müssen die Zeugen mit seinem Harmagedon rechnen, Pest & tödliche Fieberglut werden dann über die Welt kommen - und nur die Zeugen werden das Gottesgerichtsgemetzel überleben und das Paradies danach erleben.

Zwar ist bei strenger biblischer Auslegung in der heilen Nachwelt nur Platz für 144.000 Zeugen (2,6 Millionen Jehova -Jünger schätzt man aber heute weltweit), und auch bisher drei Voraussagen des Jüngsten Tages erfüllten sich nicht (1914, 1925, 1975). Trotzdem beißen jährlich allein in der BRD dreitausend neu auf die alttestamentarischen Köder an. Auf der Bühne fordert der Vorsitzer das „Aufmerken“ der „treuen Sklaven“, doch die reagieren auch auf die nun vorgeführten Muster-Zeugen nur mit dumpfen Pflichtbeifall. Ein Mann und eine Frau werden zu ihrer persönlichen Errettung durch Jehova interviewt und antworten mit auswendiggelernten Versatzstücken.

Der tiefe Zeugenglaube befreit vom Nachdenken über sich selbst und die Welt. Das Korsett killt Konflikte. Schließlich ist das Ende nah. So what. Der Presse-Zeuge erläutert im Reporterzimmer einige Essentials des fundamentalistischen Lebenswandels: Jehovas Anhänger wählen nicht („auch Jesus war politisch neutral“), für sie stammt höchstens Herr Darwin selbst vom Affen ab, Homos sind ihnen eine Höllenbrut, die Ablehnung vorehelichen Verkehrs und der Abtreibung versteht sich von selbst. Auch zu Bluttransfusionen und Wehrdienst sagen die Zeugen Nein. Titelstories in „Wachturm“ oder „Erwachet“ mit den Themen Meeresverschmutzung, Wallstreet oder Suchtgefahren sind gespickt mit steinalten Prophetenslogans. Trotz bibelgerechter Lebensführung muß der einzelne Zeuge noch etwas mehr tun, um sich einen Platz direkt am Eingang zum Paradies zu sichern. ZeugIn muß für die „Watchtower Bible and Tract Inc.“ (Umsatz etwa eine Milliarde), die Weltzentrale der Zeugen in New York, anschaffen gehen. Im Klartext: deren Druckwerke verkaufen. Die Heftchen und Bücher müssen sie dabei aber zuerst selbst ankaufen und dann sehen, wie sie sie loswerden. Knallhartes Leistungsprinzip. Je mehr Verkauf, desto sicherer das Überleben. Bei soviel gottergebener Leistung gerät das irdische Leben zur nivellierten Wartezeit. Vielleicht wirkte dehalb schon der Auftakt des Kongresses wie eine Abschlußkundgebung.

kotte

Alle Zitate aus der Jehova-Broschüre „Mache deine Jugend zu einem Erfolg“.