Oberster Sowjet holt Atem

■ Ende der ersten Sitzungsperiode / Zusätze zum Gesetz über Staatsunternehmen verabschiedet

Moskau (afp/dpa/taz) - Der Oberste Sowjet in Moskau hat sich zum Abschluß seiner ersten Sitzungsperiode für eine weitere Beschleunigung des Demokratisierungsprozesses ausgesprochen. Um den wachsenden sozialen, wirtschaftlichen und ethnischen Spannungen zu begegnen, rief er alle Parlamente auf Republik - und kommunaler Ebene auf, im August und September zusammenzutreten.

Auch das Zentralkomitee der KPdSU hat in einer Resolution die Parteigremien auf allen Ebenen zu Sondersitzungen aufgerufen. Für Ende des Jahres wurden Neuwahlen aller Parteieinheiten mit weniger als 15 Mitgliedern angeordnet. Zur Perspektive der Reorganisation der Partei heißt es in der ZK-Resolution: „Man muß nicht nur ein neues Konzept über die Funktionen und die Rolle der Partei im politischen System entwickeln, sondern innerhalb der Partei auch neue Arbeitsmethoden einführen, um sicherzustellen, daß sie ihre Rolle als politische Vorhut in der Gesellschaft behält.“

Daß nicht nur der Partei die früher uneingeschränkte Kontrolle über den politischen Prozeß zu entgleiten droht, sondern auch den staatlichen Organen die Bekämpfung des organisierten Verbrechens, läßt eine gestern vom Obersten Sowjet verabschiedete Resolution erkennen. Das Papier sieht die Fortsetzung auf Seite 2

Einrichtung von „vorübergehenden Komitees“ in Gebieten, Regionen, Autonomen- und Sowjetrepubliken vor. Die Komitees werden sich u.a. aus Mitgliedern der Staatsanwaltschaft, der Polizei und des KGB zusammensetzen. Bereits am Donnerstag hatte der Oberste Sowjet Zusätze zum Gesetz über Staatsunternehmen verabschiedet. Alle staatlichen Betriebe haben demnach das Recht, Transaktionen mit dem Ausland abzuwickeln, Kapital zu bilden und Beziehungen zu kapitalistischen Ländern zu knüpfen. Damit

stimmen die Gesetzeszusätze mit den jüngsten Streikforderungen der sowjetischen Bergarbeiter überein.

Obwohl der Streik das zweifellos herausragende politische Ereignis während der gestern zu Ende gegangenen ersten Sitzungsperiode des Obersten Sowjet darstellte, konnte sich das Parlament noch nicht zur Verabschiedung eines Streikgesetzes durchringen. Überhaupt drückt sich die neugewonnene Bedeutung des Parlaments weniger in konkreten Gesetzesinitiativen als vielmehr in der Einübung und Etablierung demokratischer Entscheidungsprozesse aus. Erstmals wurden nominierte Ministerkandidaten nach kontroversen Befragungen und heftigen Debatten gekippt; die Parlamentskommission zum Hitler-Stalin-Pakt befürwortete die Annullierung des geheimen Zusatzprotokolls; den baltischen Staaten wurden

weitreichende wirtschaftliche Autonomierechte gewährt. Auch wenn bislang die wesentliche politische Entscheidungskompetenz bei Partei und Regierung verbleibt, hat die im politischen Reformkonzept vorgesehene Machtverschiebung hin zu den gewählten Organen begonnen.

eis