Danton auf der Quickly

■ Maguy Marins Antirevolutionsrevue und anderes Tanztheater in Avignon

Jürgen Berger

Die zwölf Tänzer sind Arbeiter. Noch während die Zuschauer ihre Plätze im großen und windigen Ehrenhof des Papstpalastes in Avignon suchen, schleppen sie schon Kisten auf die Bühne, kleine, große, überdimensionale. Im Hintergrund türmen sie sich zu einem wahren Kisten gebirge. Plötzlich beginnt das Stück - und die Revolution. Während der Arbeitspause. Der letzte Höhepunkt des größten Theaterfestivals der Welt hat gerade begonnen, und schon hat die derzeit wichtigste Choreographie des französischen Tanztheaters deutlich gemacht, daß sie ihren Landsleuten die Revolutionseuphorie ausstreiben will.

„Na und, was interessiert mich denn das?“ läßt sich der Titel von Maguy Marins Spektakel übersetzen, mit dem sie auch den momentanen Stillstand in der französischen Tanztheaterszene kommentiert. Denn es steht in krassem Gegensatz zu vielen der inhaltsleeren Stücke, die junge französische Choreographen zur Zeit präsentieren, ist eher eine grotesk-ironische Revue mit Tanzeinlagen im Stile der Brechtschen Dreigroschenoper. Es wird von Avignon aus auf Welttournee gehen, ähnlich wie vor einigen Jahren Peter Brooks Mahabharata.

Robespierre, Danton und Marat sind im Altersheim, vor dem Fernseher. Sie sehen sich die große Revolutionsfeier auf den Champs Elysees an. Danton ist zwar nicht mehr ganz auf dem Damm, aber sobald im TV sein Name fällt oder die Krankenschwester vorbeigeht, beginnt er zu zappeln. Marat wird immer noch von der Bürgerin mit dem Messer verfolgt, es ist allerdings wie im Kinderspiel, auch wenn er Robespierre als Diktator beschimpft. Louis XVI. sitzt beleidigt im Hintergrund, auf einem Moped. Wenn er startet und tapsig vorwärtsfährt, geschieht dasselbe wie vor 200 Jahren. Er wird gestürzt, Danton fegt jetzt mit seiner Quickly auf der Bühne herum.

Der Wurm steckt im Apfel der Revolution, und Maguy Marin zieht auf ihre Art und Weise die Bilanz der 200 Folgejahre. Eine Revolutionsfolge ist die allgemeine Wehrpflicht. Aus den geschundenen Bauern und Kleinbürgern werden geschundene Soldaten. Sie tanzen, bis sie mit ihrem Kreuz auf dem Soldatenfriedhof liegen. Dann bekommen sie das typische französische Denkmal, den Erster-Weltkrieg-Soldaten, in der Linken das Sturmgewehr, in der Rechten die Nationalflagge, die in der derzeitigen Jubiläumseuphorie als Slip oder Hundehalsband in allen Schaufenstern Frankreichs zu haben ist. Aber das Denkmal verheddert sich in die Fahne, versucht die heldische Pose zu finden, staubt bei jeder Bewegung. In Avignon hat niemand gelacht, obwohl die Denkmalsentweihung leicht und amüsant in Szene gesetzt ist. Die Chefs aus Politik, Wirtschaft und Kirche tanzen dazu den Tango Militaire, nachdem sie kurz nach der Revolution wendig ein gekonntes Demokratiespektakel veranstalteten. Vergnügten Genuß hat Maguy Marin unmöglich gemacht, nicht zuletzt, weil die gesprochenen Texte von Vian, Celine und Artaud sind.

Die Tänzerinnen und Tänzer der Truppe haben schauspielerische Fähigkeiten, wie man das bei Tanzensembles selten sieht. Und wenn die Choreographin ihr eigentliches Medium einsetzt, geschieht das immer aus einer theatralischen Szene heraus. Die Akteure finden sich wie zufällig zu einer Formation, tanzen einfache Figuren gebücktes Gehen, gequält oder hastig, mit überraschenden kleinen Sprüngen. Das ist Maguy Marins eigenwillige Tanzschrift, die man in Deutschland schon einmal genießen konnte, als ihr von Beckett inspiriertes May B. zu sehen war.

Mit Eh, qu'est-ce que ?a m'fait a moi!? sprengt sie die Tanztheatergrenzen: Aus drei der überdimensionalen Kisten fährt immer wieder eine Band nach oben, spielt Weillsche Musik, wechselt zu reinem Rock und raffinierten Jazz -Arrangements. Dann verschwinden sie, mit ihnen Sylvie Bonhomme und Lamine Hansni, die Sängerin und der Sänger. Zum Schluß bauen die Tänzer eine Riesenmaschine auf der Bühne. Auf den Fließbändern zir kulieren die guillotinierten Köpfe - der maschinelle Mord nimmt die industrielle Revolution vorweg. Das Revolutionsgemetzel ist eine choreographierte Fabrikszene, und plötzlich meint man, in Fritz Langs Metropolis zu sein.

Traditionellerweise kommt der Tanz erst in der zweiten Hälfte des Festivals auf die Bühnen in Avignon. Daß ihm die heiligen Tore des Hauptspielortes im Papstpalast geöffnet werden, ist nicht so selbstverständlich. Als Maurice Bejart

-in dessen Ballett Maguy Marin tanzte, bevor sie ihre eigene Truppe gründete - vor zwanzig Jahren zum ersten Mal dort auftrat, sorgte das für einige Aufregung. Es folgten Merce Cunningham und Anfang der 80er Jahre Pina Bausch. Vor allem die Wuppertaler Meisterin des Tanz theaters hat einen nachhaltigen Eindruck bei vielen jungen französischen Choreographen hinterlassen. Daß eine Nachahmung ihres Stils auch in eine Sackgasse führen kann, haben in diesem Jahr zwei Ensembles gezeigt.

Die Group Dunes und die Compagnie des Tänzers Herve Diasnas haben mit ihrer Form der Liebe- und Haß-, Annäherungs- und Abstoßungsriten a la Pina Bausch lediglich Langeweile und Inhaltsleere verbreitet. „Sie beobachten, nähern sich, aber sie warten auch“, steht im Programmzettel von Herve Diasnas. Das ist richtig - aber leider auch schon alles. Ärgerlich, wie uniform die tänzerischen Ausdrucksmittel, das Bühnenbild und die Musik immer wieder sind: Sichanspringen, Fallenlassen, einer ist isoliert, dem anderen geht es gut, zwei Frauen wollen denselben Mann und umgekehrt. Repetition des Ganzen: Auf die Bühne werden Alltags- und industrielle Gegenstände gestellt, die tänzerisch „erfahren“ werden können; dazu liefern Computer und Synthesizer den maßgeschneiderten Klangteppich, rhythmisch anspruchslos.

Madeleine Chiche und Bernard Misrachi, Choreographen und Tänzer der Groupe Dunes, haben wohl gespürt, daß sie eigentlich nichts mehr erzählen wollen. Folge: Sie setzen Filme ein, projizieren auf die Dekorationsgegenstände, die Tänzer betreten in langen Sequenzen die Bühne gar nicht mehr. Man kann den Londoner Choreographen Lloyd Newson verstehen, der dem jungen französischen Tanz in einer Pressekonferenz vorwarf, er sei nur noch chic, langweilig und ohne tieferen Sinn.

Newson bildet zusammen mit drei weiteren Tänzern das „DV8 monochrome men“ - Tanz bis aufs Messer, sadomasochistische Rituale, die an Pasolini und Faßbinder erinnern. Es ist selten zu sehen, daß Tänzer so an die Grenze ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit gehen und wie um ihr Leben tanzen. Aber diese Hingabe ist auch ihre Schwäche. Immer wieder ist ihre Bewegung nicht mehr stilisierter Tanz, sondern intimer Ausdruck. Trotzdem: Die jungen Tänzer von der Insel wollen noch etwas zeigen, anders als viele ihrer französischen Kollegen. Und die fordern das Publikum - das einmal den Atem anhält: Einer läßt sich in einer Mut -/Vertrauensprobe von einer Wand fallen. Der Fänger unten aber wendet sich ab. Im letzten Moment krallt sich der Stürzende in einer wahnwitzigen Bewegung an die Wand.

Verliert sich das französische Tanztheater in Eitelkeit? Diese Frage wäre berechtigt gewesen, hätte Maguy Marin nicht solch ein Spektakel geboten und wäre da nicht „Roc in Lichen“ nach Avignon gekommen. Deren Produktion heißt Grenadier Weaver und hat zwei große Vorteile: Die Choreographen Bruno Dizier und Laura de Nercy setzen eine einfache Geschichte tänzerisch in Szene und experimentieren dabei, wie man das selten sieht. Drei Tänzer betanzen drei Wände, scheinen an der Vertikalen zu schweben. Zuerst helfen sie sich gegenseitig an die Wand, freunden sich mit ihr an. Dann geht es an den Halteknöpfen aufwärts und abwärts, immer schneller, immer gekonnter. An einer Hand hängend, vollführen sie raffinierte Drehungen, und es bleibt immer leichter Tanz, wird nie Akrobatik.

Die drei Tänzer zehn Meter hoch, jeder auf seiner Wand. Im schönsten Spielort des Festivals, dem Kreuzgang des Karmeliterklosters mitten in der Altstadt Avignons, schweben drei Vögel über den mittelalterlichen Kreuzgängen. Sie erzählen die Geschichte einer Urwaldjagd bei Vollmond. Die Jäger sind Webervögel, wie der Titel Grenadier Weaver übersetzt heißt. Der Webervogel webt sein Nest kunstvoll um einen Ast, so wie Laura de Nercy, Hela Fattoumi und Eric Lamoureux ihre Tanzfiguren an die Wand schreiben.

Zurück bleibt die südfranzösische Nacht. Auch die Tonanlage des Karmeliterklosters, die den elektronischen Urwaldpunk zum Grenadier Weaver körperlich spürbar machte und die bei einer Blueseinlage den Eindruck erweckte, als stünde die Sängerin leibhaftig oben auf dem Kreuzgang. Und auch Hela Fattoumi bleibt zurück, eine außergewöhnliche Tänzerin, von der man hoffentlich noch hören wird. Das Festival oder spectacle - wie man hier alles nennt, was irgendwie Unterhaltungswert hat - ist vorbei.