Wem gehört Chantal Daigles Bauch?

Ein Mann in Kanada will seine Freundin gerichtlich an einer Abtreibung hindern / Oberste Richter hören ab heute den Fall der Chantal Daigle / Verwirrende rechtliche Situation bei Abtreibungen / Grundsatzurteil zur Abtreibungsfreiheit wie 1973 in USA erwartet  ■  Von Silvia Sanides

Washington (taz) - Wenn heute Kanadas Oberste Bundesrichter ihre Sommerpause unterbrechen, um den Fall der Chantal Daigle zu hören, sollten sie rasch zu einer Entscheidung kommen. Chantal Daigle ist in der 23.Woche schwanger und will gegen den Willen ihres Freundes, Jean-Guy Tremblay, abtreiben. Ein Gericht der Provinz Quebec verhängte auf Anforderung von Tremblay eine einstweilige Verfügung, die eine Abtreibung verbietet. Die Entscheidung wurde letzte Woche vom Berufungsgericht der Provinz bestätigt.

Sollten sich die Obersten Richter in Ottawa mit der Entscheidung Zeit lassen, dann könnte es Chantal Daigle gehen wie 1973 der Amerikanerin Jane Roe. Der berühmt gewordene Fall „Roe gegen Wade“ garantierte den Amerikanerinnen Abtreibungsfreiheit. Doch der Prozeß zog sich so lange hin, daß Jane Roe ihr Kind austragen mußte und zur Adoption freigab.

Falls die Richter jedoch das Verbot für nichtig erklären, müßte Chantal Daigle in die USA zur Abtreibung fahren, wo einige Ärzte bis zur 25.Woche abtreiben. Im Fall Daigle verhandeln kanadische Gerichte zum dritten Mal über das Recht von Frauen, gegen den Willen ihrer Freunde abzutreiben. Erst im letzten Monat versuchte der 23jährige Gregory Murphy, seine Freundin Barbara Dodd mit gerichtlichen Schritten an einer Abtreibung zu hindern.

Das Oberste Gericht der Provinz Ontario nahm eine bereits verhängte einstweilige Verfügung jedoch wegen fehlerhafter Prozeßführung zurück. Eine Woche später lehnte es ein Gericht der Provinz Manitoba in einem ähnlichen Fall ab, eine Abtreibung zu verbieten. „Unsere Situation ist verrückt. Jeder Mann und jede Frau kann das Recht einer Frau abzutreiben, vor Gericht anfechten“, kommentiert Alice DeWolffe, die sich als Mitglied der Organisation „National Action Commission on the Status of Women“ für Abtreibungsfreiheit in Kanada einsetzt.

Zu der jetzigen widersprüchlichen Situation bei Abtreibungen kam es im Januar 1988, als - ironischerweise die BefürworterInnen der Abtreibungsfreiheit einen entscheidenden Sieg errangen. Damals erklärte das Oberste Bundesgericht in Ottawa die bis dato gültige Abtreibungsregelung als verfassungswidrig.

Diese Regelung erlaubte Abtreibungen nur an speziell berechtigten öffentlichen Krankenhäusern. Ein vom Krankenhaus ernanntes dreiköpfiges Ärzteteam, ein sogenanntes „Therapeutisches Abtreibungskomitee“ (Therapeutic Abortion Committee), mußte die Genehmigung für die Abtreibung erteilen. Laut Gesetz durfte der Abbruch nur genehmigt werden, wenn die Frau durch die Schwangerschaft „körperlich oder seelisch“ gefährdet war. Diese Einschränkungen, entschied das Gericht 1988, verstießen gegen das verfassungsmäßig verankerte Recht der Frau auf „Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit“.

Die BefürworterInnen von Abtreibungsfreiheit waren über die umfassende Entscheidung des Gerichts überrascht. Katherine Coffin von der „Canadian Abortion Rights Action League“ erinnert sich: „Wir feierten den Sieg. Endlich sagten die Richter, was wir schon seit zwanzig Jahren behaupten: Es ist ein fundamentales Recht der Frau, zu entscheiden, ob sie ein Kind bekommen will oder nicht.“

Sektkorken knallten auch in der privaten Abtreibungsklinik des Gynäkologen Henry Morgentaler in Toronto. Entgegen der 1969 erlassenen Abtreibungsgesetzgebung hatte er die Klinik gegründet und in fast zwei Jahrzehnten etwa 20.000 Abtreibungen vorgenommen. Ebenso lange war er deshalb in Strafprozesse verwickelt gewesen und hatte eine zehnmonatige Gefängnisstrafe absitzen müssen. Es war der Fall Morgentaler, der im Januar 1988 zur Entscheidung des Obersten Gerichts führte, die Abtreibungsgesetzgebung als verfassungswidrig zu erklären.

Der Freude über die gerichtliche Entscheidung ist jedoch inzwischen Ernüchterung gefolgt. „Kanada hat keine einheitliche Abtreibungsgesetzgebung mehr“, erläutert DeWolffe gegenüber der taz. „Deshalb haben sich die einzelnen Provinzen daran gemacht, das Recht auf Abtreibung mehr denn je zu demontieren.“ Erster Schritt einiger Provinzregierungen war es, die öffentlichen Mittel für Abtreibungen zu streichen. Gerade arme Frauen, die oft in abgelegenen Gebieten leben, haben so die Einschränkungen am meisten zu spüren bekommen. Das gesetzliche Vakuum machte auch die Versuche von Freunden, Abtreibungen gerichtlich zu verhindern, erst möglich

„Es sieht im Moment so aus“, meint DeWolffe, „als ob die Gerichte die Funktion der 'Therapeutischen Abtreibungskomitees‘ übernehmen. Die Entscheidungen sind genauso willkürlich und unterschiedlich von Prozinz zu Provinz“.

Kanadische Frauenrechtlerinnen fordern einen Zusatz zum „Kanadischen Gesundheitsgesetz“, der Abtreibungsfreiheit im ganzen Land garantieren soll. Auch Justizminister Douglas Lewis warnte kürzlich davor, einen Flickenteppich mit unterschiedlichen Abtreibungsgesetzen in jeder Provinz entstehen zu lassen. Zumindest in den ersten Schwangerschaftsmonaten, meint er, müßten Abtreibungen legal sein. Das Parlament in Ottawa hat es bisher trotz mehrerer Anläufe jedoch nicht geschafft, ein Gesetz zu verabschieden. Weder für einen Gesetzesvorschlag, der totale Abtreibungsfreiheit vorsieht, noch für einen, der Abtreibungen nur erlaubt, wenn die Schwangere in Gefahr ist, fand sich die notwendige Mehrheit.

Die jüngsten Entwicklungen in den USA, wo das Oberste Gericht Anfang Juli die Abtreibungsfreiheit einschränkte, erschweren auch kanadischen BefürworterInnen einer großzügigen Abtreibungsgesetzgebung die Arbeit.

Hilda Thomas, Vorsitzende eines Frauengesundheitszentrums in Vancouver, befürchtet: „Die Mulroney-Regierung wird sich drücken. Die Entscheidung in den USA hat sie auf die Idee gebracht, sich aus der Affäre zu ziehen, indem sie die Angelegenheit den Provinzen überläßt.“

„Deshalb“, befürchten DeWolffe und ihre Mitstreiterinnen, „werden wir und unsere Gegner unsere Differenzen noch einige Zeit vor Gericht austragen.“ Und Frauen wie Barbara Dodd und Chantal Daigle werden mit den bitteren persönlichen Konsequenzen leben müssen.