Urlaubsreif schon vor der Reise

■ Am Reservierungsschalter der Reichsbahn im Bahnhof Zoo: Eine Stunde lang gegen die Verzweiflung anstehen

Wie schwer hatte es Dante; welch höllisches Inferno mußte er bemühen, um die menschlichen Abgründe im Scheine der teuflischen Feuer so richtig ausleuchten zu könen. Nachgeborene haben es leichter mit solchen Erfahrungen: Sie müssen nur mit der Reichsbahn in den Urlaub fahren wollen und den Wunsch nach einer Platzkarte haben.

Zwei Schalter hat die Reservierungsstelle im Bahnhof Zoo. Bereits morgens um neun Uhr dreißig reichen die Schlangen wartender Menschen bis in die Vorhalle; Tendenz: schnell wachsend. Die Schlange erreicht, so ist mathematisch zu vermuten, irgendwann eine konstante Länge in Abhängigkeit vom absoluten Frustfaktor. Neuankömmlinge stellen sich bei Erreichen dieser Grenzwertkonstante gar nicht erst an.

Die zwei Schalter sind mit modernen Bildschirmen ausgestattet. Und dennoch geht es quälend langsam voran. Männer wie Frauen stehen in der Schlange, umhaucht vom frischen Schweiß der Nachbarschaft, im Wechselfieber zwischen tiefer Depression und nach Gewalt schreiender Verzweiflung. Wenn es um die Organisation höchst komplizierter Reiserouten mit einem Dutzend Umsteigebahnhöfen ginge, man könnte es verstehen - doch warum dauert eine simple Platzkarte nach München rund fünf Minuten? (Die man übrigens in der Bundesrepublik direkt am Fahrkartenschalter erhält.) Doch nicht aus dem Computer kommen die Informationen, sondern über Funk. Ständig muß bei unbekannten Instanzen Undefinierbares nachgefragt werden, bis man sich wie in Kafkas Behörden-Labyrinthen fühlt. Könnte der EDV-Bildschirm endlich einmal leuchten, dann bekommt er keinen Anschluß, wie die Schalterfrau mitteilt.

In der Schlange wächst die Wut. Unerbittlich wird von hinten geschoben und vorne eisern jeder Zwischenraum dicht gemacht. Argwohn schlägt jedem entgegen, der sich so einfach bis zum Schalter vortraut. Doch die Sorge ist verfehlt: Hinten ist das Ende, wird der Vorwitzige von den Damen abgefertigt, auch wenn er nur schüchtern um eine Auskunft bittet. In fremdenfeindliche Wallung gerät die Schlange, als ein abseits wartender Afrikaner sich erst neben seinen Landsmann stellt, als der den Schalter erreicht hat. Helle Schadenfreude schlägt einem Reisenden entgegen, der mit Hinweis auf seinen in wenigen Minuten abgehenden Zug darum bittet, vorgelassen zu werden: Nichts da, das hätte er sich eben vorher überlegen müssen. Jeder fiebert selbst dem Ende der Tortur entgegen. Nach einer Stunde ist endlich der Schalter erreicht, nur um zu erfahren, daß der ausgesuchte platzkartenpflichtige Zug schon voll ist. Also Urlaubsplanung umlegen, bis endlich die 3,50 Mark den Besitzer wechseln können. Und während einen die neidischen Blicke der Zurückbleibenden verfolgen, beherrscht uns nur ein Gefühl: endgültig urlaubsreif zu sein.

gn Fotos: Bernd Markowsk