Die Schnell-noch-weg-Stimmung

Bärbel Bohley von der Ostberlinher „Initiative Frieden und Menschenrechte“ zur Ausreiseproblematik  ■  I N T E R V I E W

taz: Wenn du dich in Ost-Berlin umhörst, hast Du dann das Gefühl, daß die Fluchten via Ungarn zur Zeit Thema Nummer eins in der DDR sind?

Bärbel Bohley: Nicht nur via Ungarn. Die DDR-Leute sitzen ja jetzt in mehreren bundesdeutschen Botschaften und versuchen, in den Westen zu kommen. Das gesamte Thema, warum soviele weg wollen, warum gerade jetzt und warum so verstärkt, wird diskutiert.

Und warum wollen gerade jetzt soviele DDR-Bürger weg?

Es gibt so eine Art Endzeitstimmung. Sehr lange wurde in die Sowjetunion geguckt, und es war immer die Hoffnung da, daß sich bei uns auch was bewegt. Jetzt sieht es gar nicht so gut aus, in beiden Ländern nicht: Durch die Streiks in der Sowjetunion ist deutlich geworden, wie schlecht dort die Situation ist und wie gefährdet das ganze Experiment. Da haben die Leute bei uns das Gefühl, es sitzen ganz viele in den Startlöchern und warten, daß das schiefgeht, um wieder die harte Linie durchzusetzen. Und dann noch die Schließung der ständigen Vertretung. Da entsteht bei den Leuten die Stimmung: schnell noch rechtzeitig weg hier. Natürlich haben die Leute auch Angst, daß die Grenze nach Ungarn zugemacht wird. Aber es weiß auch jeder, daß das nicht helfen, sondern die Situation in der DDR noch zuspitzen wird.

Welche innenpolitischen Auswirkungen hat die momentane Fluchtbewegung?

Ich denke, daß sie dazu beiträgt, daß die Machtverhältnisse bestehen bleiben, daß es innenpolitisch keine große Bewegung gibt und die Fluchten als Ventil benutzt und zugelassen werden.

...auch weiterhin?

Na irgendwie muß langsam mal was passieren. Das ist ja eine absurde Situation. Das wird sich nicht nur von der DDR aus ändern, sondern auch von der Bundesrepublik her. Wir wissen ja inzwischen, daß die Leute aus der DDR bei euch gar nicht so gerne gesehen werden. Die ganze Ausländerfeindlichkeit ist ja hier auch bekannt geworden, und daß die DDR-Bürger nicht mehr so aufgenommen werden wie vor 20 Jahren- und schon gar nicht in dieser Zahl. Eines ist klar: Es müßte mal Farbe bekannt werden, von allen Seiten. Das würde bedeuten, daß bei euch deutlich gesagt wird: „Bleibt mal schön drüben.“

Du forderst also von der Bundesrepublik, mit der Verlogenheit gegenüber den ausreiseweilligen DDR-Bürgern aufzuhören?

Es muß sich auf zwei Seiten was ändern. Bei euch diese Verlogenheit - ob durch Änderung des Grundgesetzes, Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, das weiß ich nicht. Und bei uns: daß die Gesellschaft sich reformiert, daß das System sich verändert, daß die Leute reisen können. Und nicht nur reisen können, wenn jemand eine Tante hat, sondern, daß jeder fahren kann, und wenn's einmal im Jahr ist. Und dann auch genügend Geld dafür umtauschen kann und nicht mehr davon abhängt, daß jemand nett zu ihm ist, im Westen.

Stimmt die Information, daß eine Erweiterung der Reiseregelung geplant ist?

Es wird davon gesprochen, daß der Kreis, der reisen darf, erweitert werden soll - auf diejenigen, die Freunde haben. Aber auch das ist wieder ungerecht, weil natürlich nicht alle Leute Freunde im Westen haben.

Wird über die Fluchtwelle zur Zeit in den Oppositionsgruppen diskutiert?

Ich bedauere, daß da eine starke Antihaltung gegen die Ausreiser da ist und das Problem dadurch ein bißchen weggeschoben wird. Es wird nicht zum eigenen Problem gemacht. In Wirklichkeit ist es aber so, daß von den 16,5 Millionen DDR-Bürger jeder zweite einen Ausreiseantrag hat oder überlegt, ob er einen stellen wird. Und deshalb ist das wirklich unser Problem.

Interview: Clara Roth