Fluchturlaub in Ungarn

Auf der Fahrt im Wien-Holland-Expreß von Wien nach Frankfurt meint der 26 Jahre alte Torsten: „Es war wie beim Äpfelklauen.“ Er und seine Freundin Wiebke (22) haben das Ostberliner Pärchen Hartmut und Eyke auf der Flucht kennengelernt. „Gesehen, gegrinst und losgespurtet“, beschreibt Hartmut diesen Moment. Ein Mittdreißiger dagegen, der seinen Vornamen nicht nennen will, hatte sich mit seiner Freundin in einen kleinen Ort kurz vor die Grenze geschmuggelt. „Mit einem Trauerzug marschieren wir über den Friedhof, dann über die Mauer und sofort ins Maisfeld. Immer wieder achten wir auf Wachtürme. Am Ende des Maisfelds liegt eine unbefestigte, sieben bis zehn Meter breite Straße. Die kann man von weitem einsehen. Meine Freundin und ich hechten über die Straße. Dahinter steht ein ein Meter hoher Zaun.“

Er polstert den Stacheldraht mit einer dicken Jeansjacke ab und springt zuerst über den Zaun, zieht die Freundin nach, „und dann sind wir nur noch gelaufen“. Bis ein österreichischer Bauer sie aufklärt: „San schon in Österreich“, versucht er den Dialekt nachzuahmen. „Das waren mit die schönsten Worte, die ich in meinem Leben gehört habe“, sagt er jetzt.

Dramatischer erlebten zwei Familien mit je einem Kind aus Halle ihren Fluchturlaub in Ungarn. Der erste Fluchtversuch schlug fehl: Der 23 Jahre alte Sven trat „aus Versehen auf einen Stolperdraht“, und dann ging schon die Leuchtrakete hoch. Die ungarischen Grenzer seien „sehr nett“ gewesen. Sie hätten ihnen keine Stempel in die Pässe gedrückt, die sie als Republikflüchtlinge gebrandmarkt hätten. So sahen es auch diese freundlichen Ungarn: Ihr bekommt keinen Stempel in den Paß, damit es bei der Rückkehr in die DDR keinen Ärger gibt, habe der Dolmetscher ihnen gesagt. Sie wurden mit der Auflage entlassen, das Grenzgebiet zu verlassen.

Das taten sie in der folgenden Nacht - aber in Richtung Österreich. Den vierjährigen Enrico hatte Vater Andreas (28) sich mit einer Decke auf den Bauch gebunden und ihn mit zwei Schlaftabletten ruhiggestellt. Fünf Stunden wateten sie durch das Schilf im Neusiedler See. Um 530 Uhr waren sie in Österreich. Begeistert seien sie von den Österreichern aufgenommen worden. Immer wieder berichten die DDR -Flüchtlinge von spontaner und großzügiger Hilfe. Hinter sich gelassen haben viele eine materiell gesicherte Existenz. Sie trieb die Angst, daß „das Loch Ungarn dicht gemacht“ wird.

Jürgen Gesper (dpa) Notaufnahmelager überfüllt

Gießen (taz) - Nicht erst seit gestern morgen, als die Flüchtlinge aus dem Wiener Sonderzug eintrafen, platzt das einzige bundesdeutsche Notaufnahmelager für DDRler im hessischen Gießen aus allen Nähten. Als „beispiellos seit dem Mauerbau“ bezeichnet der Sprecher des hessichen Sozialministeriums, Uwe Berlinghoff, die monatliche Steigerungsrate des Flüchtlingsstroms aus der anderen deutschen Republik. Das für 500 Personen ausgerichtete Lager müsse derzeit 2.000 Personen beherbergen - „und täglich kommen 500 neue Flüchtlinge dazu“ (Berlinghoff).

Inzwischen hat das Land Hessen vier Turnhallen, ein Gemeindehaus und eine Jugendherberge in Gießen mit Flüchtlingen belegt und ist auf der Suche nach weiteren Ausweichquartieren in der Stadt und der näheren Umgebung. Da die Neuankömmlinge bis zu vier Tagen bleiben müssen, ehe sie „in das Bundesland ihrer Wahl“ weiterreisen können, habe man es in Gießen mit einem „expandierenden Problem“ zu tun, meinte Berlinghoff weiter.

Gestern nachmittag tagten in Wiesbaden die Staatssekretäre aus den Ministerien für Finanzen, Soziales und Innenpolitik in Permanenz. Unter anderem wird daran gedacht, auf einem dem Land gehörenden, unbebauten Grundstück Notunterkünfte in Fertigbauweise errichten zu lassen. Darüber hinaus muß der Sozialminister dem Finanzminister weitere Mittel für die Bezahlung von Aushilfskräften in Gießen abringen. Für die hessische Landesregierung steht fest, daß es das Problem ein „dauerhaftes“ ist: 30 neue feste Stellen für das Notaufnahmelager Gießen sind bereits beantragt - „und das wird nicht ausreichen“ (Berlinghoff).

Probleme gibt es auch bei der „Weitervermittlung“ der Flüchtlinge. So habe das Land Nordrhein-Westfalen Bedenken angemeldet, und auch mit Rheinland-Pfalz habe es „Schwierigkeiten“ gegeben, meinte der Sprecher des Sozialministers. Zwar begrüße es die hessiche Landesregierung nach wie vor, daß es den Menschen verstärkt gelinge, aus einer Diktatur in den „freien Westen“ zu gelangen, doch: „Je mehr kommen, desto größer werden die Probleme.“

Klaus-Peter Klingelschmitt