Sog und Drang nach Westen

■ Je mehr DDR-BürgerInnen die Flucht oder Ausreise in die BRD schaffen, desto mehr folgen ihnen

Die ausreisewilligen DDRler, die sich in den bundesdeutschen Vertretungen in Ost-Berlin, Budapest und Prag aufhalten, sind nur die Spitze eines Eisbergs. Insgesamt wird die Zahl derer, die einen Ausreiseantrag gestellt haben, auf mehrere Hunderttausend - bis zu einer Million - geschätzt. In der Opposition wird sogar vermutet, daß jede(r) zweite sich dies zumindest überlegt (siehe Interview).

Rund 500 DDR-BürgerInnen kommen täglich im Notaufnahmelager Gießen an, etwa 130 wollen die bundesdeutsche Vertretung in Ost-Berlin nur noch gen Westen verlassen. So hoch sind die Zahlen, daß die Bonner Regierung einen Sogeffekt befürchtet und deshalb eine Nachrichtensperre über den gesamten Vorgang verhängt hat. Sogar die österreichischen Behörden konnte sie überreden, nicht mehr mehr bekanntzugeben, wieviele Flüchtlinge jeden Tag aus dem benachbarten Ungarn eintreffen. Doch die Zahlen, die es gibt, sagen genug: Mehr DDR-Bürger als je zuvor seit dem Mauerbau werden in diesem Jahr ihrem Land den Rücken kehren. Wurden 1988 39.832 Personen in den Aufnahmelagern (neben Gießen noch das kleinere in Berlin-Marienfelde) registriert, so stieg die Zahl allein im ersten Halbjahr 89 auf 55.970. - eine Größenordnung, mit der man im Innerdeutschen Ministerium nicht gerechnet hatte. Staatssekretär Priesnitz bringt die Bonner Ängste ungeschickt-deutlich auf den Punkt: „Die Menschen sollen möglichst bleiben, wo sie sind, damit die Wiedervereinigung nicht in der Bundesrepublik stattfinden muß.“

An diesen Rat wollen sich viele DDRler ganz offensichtlich nicht halten. Der gemessen am Westen niedrige Lebensstandard - wenn auch bei größerer sozialer Gleichheit - die sinkende Lebensqualität durch Städteverfall, katastrophale Umweltbedingungen oder bürokratisierte Reisemöglichkeiten sowie die Abschottung des Regimes gegen die Reformbewegungen im Osten machen die Ausreise zum zentralen Thema der DDR -Bevölkerung.

Dennoch sind es nicht in erster Linie politische Gründe, die für die Übersiedler im Vordergrund stehen. Während viele der politisch Engagierten in der DDR gegen Abschiebeversuche der Behörden gerade bleiben wollen, gehen überproportional viele gutausgebildete Personen in den Westen, weil sie sich dort materiell bessere Chancen ausrechnen: Mediziner, Psychologen, Handwerker und Facharbeiter. Würde allen ausreisewilligen Ärzten die Übersiedlung genehmigt, könnte das Gesundheitswesen diesen Aderlaß kaum verkraften.

Auch die bislang genehmigten Ausreisen bedeuten vor allem im Dienstleistungssektor eine zusätzliche Verschlechterung was den Drang nach draußen weiter anheizt.

Angesichts der im Vergleich zum Westen niedrigen Produktivität und der schleppenden technologischen Modernisierung ist auch die Abwanderung weniger, aber qualifizierter Arbeiter eine permanente Belastung für die DDR-Wirtschaft. Das Problem ist freilich nicht neu. Der Mauerbau war das abstruse und zugleich konsequente Mittel, um die Bedingungen zu einer ökonomischen Konsolidierung zu schaffen. So konnte die Zahl der Übersiedler noch in den siebziger Jahren bei 10-15.000 pro Jahr gehalten werden.

In den letzten Jahren versucht die DDR mehr Flexibilität, um die durch Gängelung und mangelnde Freizügigkeit entstandene Entmotivierung zum Halt zu bringen: Die Zahl der genehmigten Westreisen stieg kontinuierlich, bis auf 1,3 Millionen im letzten Jahr. Die Rate der in der Bundesrepublik oder in West-Berlin Bleibenden hielt sich mit 0,5 Prozent in tolerablen Grenzen. Doch dürfte das die SED kaum darüber hinwegtrösten, daß das Kalkül selbst nicht aufging: Die großzügigere Gewährung von Westreisen bewirkt nicht das Abebben der Ausreisewelle - im Gegenteil. Viele kommen wohl mit der liberaler gehandhabten Reisepraxis erst auf den eschmack.

Die wachsende Zahl offiziell genehmigter Übersiedlungen gibt nicht nur vielen anderen Hoffnung, beim nächsten Antrag dabeizusein. Die Abwanderungswilligen werden auch selbstbewußter. Sie organisieren sich und gehen - früher undenkbar - mit Demonstrationen an die Öffentlichkeit. Seit der spektakulären Rosa-Luxemburg-Aktion vom Januar 1988, als die „Ausreiser“ den offiziellen Jubelmarsch zur Demonstration ihrer Forderungen nutzten, werden Funktionäre auch auf öffentlichen Veranstaltungen mit den Zahlen von Ausreiseanträgen konfrontiert. Darüber hinaus entsteht auch eine gesellschaftliche Polarisierung in Antragsteller und Bleibende - denn viele, die nicht rauswollen, erwarten weitere Einschränkungen - jetzt zum Beispiel, daß die Urlaubsreisen nach Ungarn weiter erschwert werden.

Das Ausreisewelle ist nur ein Symptom der Krise. Die Erfahrungen der letzten Jahre deuten darauf hin, daß weder großzügigere Reisebestimmungen noch eine liberalere Ausreisepraxis am Westdrang der DDR-Bürger etwas ändern kann. Nur mit eindeutigen Signalen einer neuen Politik im Land selbst wird die SED den Druck zu vermindern.

Matthias Geis