Siamesische Tulpen

Das erste, was mir auffiel, waren die „Siamesische Tulpen“ in meinem Garten in Wiesbaden. Der Blütenstiel war in der unteren Hälfte verdickt und teilte sich dann in zwei vollständige Stiele mit eigenen Blüten. Das war nicht nur einmal, sondern gleich an vier verschiedenen Tulpen zu beobachten. So aufmerksam geworden, fielen mir bald noch andere Veränderungen im Tulpenbeet auf. Manche Pflanzen hatten mehr als die üblichen sechs Blütenblätter. Entweder waren ein oder zwei zusätzliche Blätter voll ausgebildet, oder aber in der Mitte der Blüte stand ein sechstes Blatt, das deutlich kleiner war als die übrigen. Andere Blüten hatten unvollständig ausgebildete Staubgefäße oder der Stempel war vier- statt dreiteilig. Neben diesen „zu gut“ gewachsenen Tulpen gab es andere, die klein und zurückgeblieben waren, wobei oft mehrere Pflänzchen aus derselben Zwiebel getrieben waren.

Für die Löwenzahnpflanze, die ich an Weg- und Straßenrändern gefunden habe, reicht die Bezeichnung „siamesisch“ bei weitem nicht aus. Einzelne Stempel und Blüten sind extrem breit, so als seien wirklich mehrere normale zu einem Superstiel verwachsen. Sie haben fatale Ähnlichkeit mit den Löwenzahnmonstern, die Mary Osborn aus Harrisburg 1985 in ihrem Garten fand, sechs Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Three Mile Island.

Das Foto eines ähnlich monströsen Löwenzahns veröffentlichte die Zeitschrift 'Wohnen und Gesundheit‘ im Heft 10/88. Unter der Überschrift „Radioaktiver Löwenzahn“ hieß es dazu: „Zwischen Terrassenplatten in einem Rosenheimer Garten wuchs im Juni der hier abgebildete völlig anormale Löwenzahn. Sein Stiel war mehr als zehnmal so dick wie gewöhnlich und auch die Blüte war riesengroß.“ Eine Messung der Platten im Garten mit dem Geigerzähler ergab extrem hohe Werte.

Die Zeitschrift stimmt Mary Osborn darin zu, daß die Ursache dieser Mißbildungen radioaktive Strahlung sei. Ähnliche Vermutungen oder Befürchtungen äußerte auch die naturwissenschaftliche Zeichnerin Cornelia Hesse-Honegger. Sie fand 1987 in Schweden und in der Schweiz in Gebieten, die relativ stark vom Tschernobyl-Fallout betroffen waren, zahlreiche Mißbildungen an Klee-, Ahorn- und Efeupflanzen und an Fliegen und Blattwanzen.

In der Bundesrepublik berichtete schon 1980 der 'Stern‘ über radioaktiv bedingte Veränderungen an Pflanzen. „Dr.Georg Spiegelberger, Museumsdirektor und Biologe aus Landshut, der in seiner Freizeit Paläontologie (Lehre der ausgestorbenen Lebewesen) und Biologie studiert, fand heraus, daß sich in Landshut innerhalb eines halben Jahres das natürliche Vorkommen von weißen Spatzen vervielfacht hat. „Die radioaktive Strahlung aus dem Kernkraftwerk Ohu und die daneben stehende Atomreaktorruine Niederaichbach hätten die Erbmasse der Tiere verändert“, meint der Biologe.

Eva Suda

Die Autorin sammelt Nach-Tschernobyl-Mutanten. Adresse: Restrisiko, Nassauer Straße 11, 6200 Wiesbaden)