Alarmierende Befunde

Studien in Norwegen und Finnland über Schäden an Kindern nach Tschernobyl ergaben verdoppelte Krankheitsrate  ■  Aus Helsinki Reinhard Wolff

In den vergangenen Wochen sind die ersten Ergebnisse zweier skandinavischer Untersuchungen über Schädigungen des menschlichen Fötus in den Monaten nach Tschernobyl veröffentlicht worden. Übereinstimmendes Ergebnis der unterschiedlich angelegten - norwegischen und finnischen Untersuchungen: deutliche Steigerungsraten von etwa 20 Prozent bei allen Schädigungen des Fötus, in Norwegen sogar bis zu 100 Prozent bei einer bestimmten seltenen Behinderung, den sogenannten Wasserköpfen.

Zuerst kam der Alarm aus Norwegen. Hier wird an einem Krankenhaus in Bergen eine Untersuchung mit Unterstützung durch das norwegische Strahlenschutzinstitut durchgeführt. Sie hat den Zeitraum 1.Mai 1986 bis 1.Juni 1987 zum Gegenstand. Die Studie soll Ende dieses Jahres veröffentlicht werden, erste Ergebnisse wurden schon jetzt bekannt. Danach weisen allein die statistischen Zahlen für den Untersuchungszeitraum, bezogen auf alle Schädigungen von Neugeborenen, eine Steigerungsrate von etwa 20 Prozent auf.

Einzelne Befunde sind noch alarmierender. Bestimmte Formen von Mißbildungen, verursacht durch Schädigungen des zentralen Nervensystems, liegen deutlich über den 20 Prozent. So haben sich Fälle des sogenannten Wasserkopfs von 50 für die Zeit vor auf 120 für die Monate nach Tschernobyl mehr als verdoppelt. Schädigungen des zentralen Nervensystems sind bei Menschen, die radioaktiver Strahlung ausgesetzt worden sind, sehr häufig.

Von den norwegischen Forschern wird gerade die auffallende Steigerung schwerer Schädigungen des zentralen Nervensystems mit Tschernobyl in Zusammenhang gebracht. Die Häufung dieser Schädigungen in der Zeit, nachdem der strahlende Regen über Norwegen niederging, könne kaum mit anderen Ursachen erklärt werden, heißt es in der Studie. Professor Lorentz Irgens, der die Untersuchung geleitet hat, hält jedoch den „absoluten Beweis für einen Zusammenhang der beiden Faktoren nicht für erbracht“. Die starken Belege für einen solchen Zusammenhang sollten aber seiner Meinung nach weiter erforscht werden.

Erstaunlich an der norwegischen Studie ist allerdings die Tatsache, daß es kaum regionale Unterschiede bei den Schädigungen der Neugeborenen gibt. Solche Unterschiede hätte man erwarten können, da in Norwegen nach Tschernobyl recht unterschiedlich hohe Strahlenwerte registriert worden waren. Jon Reitan vom norwegischen Strahlenschutzinstitut bietet eine Erklärung hierfür an. Nicht die Strahlung in Luft und Boden direkt sei der Verursacher der Schäden, sondern in höherem Maße die radioaktive Dosis, die von schwangeren Frauen über Lebensmittel, insbesondere Milch und Fleisch, aufgenommen worden sei: „Bedeutsamer wäre also möglicherweise, was man ißt und wo es herkommt, nicht so sehr die Frage, wo man selbst wohnt.“

Schäden bei Frühgeburten

Gerade diesen regionalen Zusammenhang zwischen hoher Luft und Bodenstrahlung nach Tschernobyl und Schädigungen des Fötus wollen aber finnische Forscher festgestellt haben. Hier wurden jetzt die Ergebnisse einer Untersuchung veröffentlicht, die von der Universität Helsinki in Zusammenarbeit mit der Strahlenschutzbehörde durchgeführt wurde. Fazit der Wissenschaftler: Die radioaktive Strahlung, der bestimmte Regionen Finnlands nach Tschernobyl ausgesetzt waren, hat aller Wahrscheinlichkeit nach Schäden bei Frühgeburten verursacht, nicht aber bei Kindern, die nach „normallanger“ Schwangerschaft geboren worden sind.

Die finnischen Wissenschaftler hatten von vornherein die regional unterschiedliche Strahlenbelastung berücksichtigt und alle registrierten Schwangerschaften im Untersuchungszeitraum - Geburtstermin zwischen August und Dezember 1986 - in drei Gruppen eingeteilt: Basis war hierbei die Strahlenbelastungskarte und die Gemeinde, in der die Schwangere lebte. Neben den Schwangerschaften im eigentlichen Untersuchungszeitraum wurden Vergleichsgruppen gebildet - für den Zeitraum Januar bis Dezember 1987 einerseits und vor April 1986, dem Zeitpunkt der AKW -Katastrophe, andererseits.

Auf dieser Basis konnten keine überdurchschnittlichen Schädigungen bei normallang verlaufenden Schwangerschaften festgestellt werden, wohl aber bei Frühgeburten. Hier ergab sich ein Anstieg von etwa 65 Prozent konzentriert auf die Gebiete, in denen die Strahlung am höchsten war (20.000 bis 60.000 Bq/qm Caesium 137). Auch die finnische Studie beweist keinen endgültigen Zusammenhang der Schädigungen mit Tschernobyl. Professor Rylomma kann aber „irgendeine andere Erklärung für die Steigerungsrate“ und die regionalen Häufungen nicht erkennen.

Wie sieht es in Schweden mit vergleichbarer Belastung nach Tschernobyl aus? Jack Valentin vom schwedischen Strahlenschutzinstitut teilt auf Anfrage mit, daß es eine vergleichbare schwedische Studie bislang nicht gibt. Die Gesundheitsbehörden führten aber eine fortlaufende Statistik über Geburten und Schäden des Fötus (ist euch schon mal aufgefallen, daß hier eigentlich von menschlichen LEBEwesen und nicht von toten Gegenständen die Rede ist? d. s-in), aufgrund derer man eine „auffallende“ statistische Abweichung nach Tschernobyl nicht feststellen könne. Ganz sicher werde man aber nunmehr die Studien aus den Nachbarländern auch in Schweden genauer unter die Lupe nehmen.