BRD-Botschaft in Budapest von außen ganz normal

Für DDRler in der Botschaft ist die Situation ungünstig, aber noch zu ertragen / DDRler mit abgelaufenen Visa suchen Unterschlupf bei ungarischen Zufallsbekanntschaften / DDRler werden von Botschaft tagelang vertröstet / Botschaft für jeden da, hatten sie im Radio gehört  ■  Aus Budapest R. Rosenthal

Durch das sommerliche Ungarn geistern Gerüchte. Auch unter den Urlaubern aus der DDR ist es das Thema Nummer eins: Wird es unser letzter Urlaub am Balaton sein? Viele sind deshalb noch einmal in das attraktivste Reiseland des Ostblocks gefahren. Ungarn erscheint den Touristen aus Dresden oder Rostock wie ein Traum von einer besseren DDR. Die Magyaren reißen den Grenzzaun nach Westen ab, sie reisen, wohin sie wollen und können, in den Städten blüht die Geschäftstätigkeit, die Dörfer produzieren reichlich Obst, und die politischen Freiheiten wachsen von Jahr zu Jahr. In der DDR verbotene Bücher - wie Orwells 1984 oder Solschenyzins Archipel Gulag - stehen in den Schaufenstern, frühere Untergrundzeitungen werden auf der Straße verkauft, oppositionelle Parteien und Gruppen arbeiten relativ ungestört. Ungarn wird pluralistisch, und im Staat der Einheitspartei Deutschlands wächst der Abscheu gegen die verordnete Unmündigkeit. Vor allem junge, eher unpolitische DDRler wollen da weg, egal wie, nur schnell soll es gehen.

Die bundesdeutsche Botschaft in Budapest bietet einen äußerlich normalen Eindruck. Vor zwei kleinen Wachhäuschen lungern blauuniformierte ungarische Posten und passen auf, daß niemand über den Zaun auf das Grundstück klettert. An der Straßenecke steht eine Gruppe DDRler. „Wir waren beim Botschaftspförtner“, sagt ihr Sprecher, „er hat uns zur bundesdeutschen Botschaft am anderen Ende der Stadt geschickt und eine Adressenliste gegeben.“ Die Liste enthält auch die Adresse der ungarischen Fremdenpolizei. Ein Weg dorthin könnte für die DDRler das vorläufige Ende ihrer Fluchtgeschichte bedeuten. Das ungarische Innenministerium, das heißt die Polizei, liefert alle Daten über fluchtwillige Touristen an die entsprechenden Länder des Warschauer Paktes. „Wir haben bereits einen Fluchtversuch unternommen“, sagt der Sprecher der Gruppe. „Zu viert sind wir durch ein Feld im Dreck gekrochen, dann standen die Grenzer vor uns. Seht doch einfach weg und laßt uns laufen, habe ich gesagt, aber sie hatten ihre Vorschriften. Wir wurden freundlich behandelt, unsere Personalien haben sie registriert und dann gesagt, daß wir nach Budapest zur Botschaft fahren sollen. Einen Stempel haben sie uns nicht in den Ausweis gemacht.“

Am Eingang zur Botschaft entsteht Bewegung. Zwei Frauen kommen mit einem großen Kochtopf heraus, verschwinden in einem anderen Gebäude. In der Botschaft halten sich mehr als 100 DDRler auf. Zu sehen ist davon nichts. In den oberen Etagen sind die Jalousien heruntergelassen. Vor einem Fenster hängt Wäsche. „Ich gehe mal um das Haus“, sagt der Sprecher, „nachsehen, ob man von hinten hineinkommt.“ „Nichts zu machen“, sagt er, als er wieder da ist. „Alle Türen sind verrammelt. Wir haben gedacht, es ist kein Problem hineinzukommen. Wir fühlen uns wie in die Falle gelockt. Über die Medien haben wir gehört, der Grenzzaun ist weg. Dann sind wir hergefahren und sind auf die Stolperdrähte getreten. Die Posten schirmen die Grenze tiefgestaffelt und dicht ab, da war kein Durchkommen möglich.“

Ihre Visa sind inzwischen abgelaufen. Die Botschaft kümmert sich um jeden, hatten sie im Radio gehört. Jetzt sind sie hier und kommen nicht rein. Zurück in die DDR führt auch kein Weg. Zwei haben vor dem Fluchtversuch ihre Papiere weggeworfen. Sie haben kaum Geld und nur dünne Sommerkleidung an. Seit vier Wochen hält sich diese Gruppe in Ungarn auf, sie übernachten illegal in Studentenwohnheimen oder kriechen bei Zufallsbekanntschaften unter. Am Morgen wollen sie die ersten vor der Botschaft sein.

Nachts in der Nogradi-Straße. Auf dem Beton vor dem Eingang zur Botschaft liegen Menschen - zusammengekrümmt und in Decken gewickelt. Auf Camping-Stühlen sitzen fünf Gestalten

-rauchen und berichten einander ihre Fluchterlebnisse, die Geschichte erfolgloser Ausreiseversuche. Sie wundern sich, daß man sie überhaupt nach Ungarn fahren ließ. Vermutungen werden angestellt, ob das ganze vielleicht vom Stasi geplant ist und unter den Wartenden auch Spitzel sein könnten. „Mal wieder duschen und richtig schlafen, das wäre ein Erlebnis“, sagt ein Mann. Etwa 30 DDR-Leute, Kinder sind auch dabei, bilden den Kopf der Schlange, dahinter warten ca. 80 Ungarn auf den Morgen, um ab 9 Uhr ihre Visa für die Bundesrepublik abzuholen. Die Ungarn halten freundliche Distanz zu den Deutschen. Für sie ist Honeckers Regime ein Anachronismus. Deshalb sympathisieren sie mit den fluchtwilligen DDRlern. Es ist kalt in der Nacht, ab und zu läuft sich jemand warm. Zum Glück regnet es nicht. Es wird hell, immer mehr Menschen reihen sich in die Schlange. Gegen 8 Uhr sind es vorn ca. 80 Deutsche und hinten ca. 200 Ungarn. Gegen 8.30 Uhr treffen die Botschaftsangestellten ein. Nach 9 Uhr werden ungarische Namen aufgerufen und einzelne hineingelassen. An die DDR -Leute werden Termine ausgegeben. Sie sollen in drei bis zehn Tagen wiederkommen. „Ich gehe nicht mehr weg hier“, sagt eine Frau. „Jetzt können die mal zeigen, ob sie wirklich für ihre Brüder und Schwestern da sind. Und wenn ich nicht reinkommen, wiederhole ich die Flucht, solange bis es klappt.“

Am Freitag wird das ungarische unabhängige Flüchtlingskomitee eine Pressekonferenz geben. In einer Erklärung fordert das Komitee vom ungarischen Innenministerium, keine Daten über fluchtwillige Touristen an die DDR zu liefern. Die etwa 80 Mitarbeiter vertreten die Interessen von ca. 20.000 rumänischen, 300 deutschen, 30 tschechoslowakischen und fünf bulgarischen Flüchtlingen, die sich zur Zeit im Land aufhalten. Das Komitee will die gleiche Anwendung der von der ungarischen Regierung unterzeichneten UNO-Flüchtlingskonvention für alle erreichen. Das hieße dann politisches Asyl für DDRler in Ungarn.