VERZIERTE GESCHICHTE

■ Dokumentation zum „Prager Platz“

Mit dem Prager Platz besitzt Wilmersdorf eine Begegnungsstätte der gleichnamigen Witwen. Kaum scheint die Sonne, wackeln die alten Rechen mit Handtaschen und Stützstock bewaffnet auf das grüne Oval, schwingen sich auf eine Bank, zerreißen sich das Maul und wetzen ihre Stricknadeln wie eiserne Klingen. Ein paar Penner trinken unauffällig ihr Bier, mit abgespreiztem kleinen Finger, versteht sich, und drücken die Kippen brav am Eisenrost aus. Kinder sind verboten!

Vorzugsweise hockt das Horrorkabinett mit Blick nach Süd -West, weil bauliche Reminiszenzen nostalgische Erinnerungen wachrufen; verkleidet zwar, aber immerhin: Eingefaßt von zwei Betonkisten der sechziger Jahre steht dort Gottfried Böhms postmoderne Ritterburg, eine curryfarbene Platzrandbebauung mit Türmen und Bastionen, Zinnenkranz und vorgeblendeten Klappläden. Im eckigen Raster der Fassade verschwindet zwar jede Hierarchisierung, die Beletage fehlt, und rot gestrichene Eisengitter vor geschoßhohen Fenstern erinnern eher an Zirkuskäfige als an mittelalterliche Fallspieße. Genüßlicher Blickfang für alte Damen sind sie allemal.

Das wäre weiter nicht erwähnenswert, weil mittlerweile solcherlei baulicher Bewußtseinstrübung der Wind ins Gesicht bläst, der altehrwürdigen Zitaten ebenso wie morschen Knochen den Garaus machen wird. Merkwürdig nimmt sich das Ganze deshalb aus, da zeitgleich zur Fertigstellung des Hauses jetzt Der Prager Platz als sechster Band der von Ex-IBA-Chef Kleihues herausgegebenen Dokumentation Schriftenreihe zur Internationalen Bauausstellung Berlin erschien; der liest sich wie eine Werbeschrift für postmodernes Bauen. Ohne die Realisation der übrigen Gebäude abzuwarten (oder um diese zu beschleunigen) - ein geschwungener Block mit mächtigen Kuppeln inklusive Freizeitbad und Bücherei, ein achteckiger Turmbau (Krier) und ein getrepptes Wohnhaus (Aymonino) -, setzen die Autoren im Buch zu einem stadtplanerischen Dialog an, dessen Brisanz, falls es je eine war, Jahre zurückliegt und in dem Böhms Ritterburg stellvertretend für das gesamte Ensemble als Zeuge immerwährender postmoderner Rechthaberei herhalten muß.

Denn bislang ist Böhms Wohnhaus der einzig vollendete Bau von vier geplanten Projekten der Berliner IBA zur Neugestaltung des von Bombenlücken arg zerfledderten Prager Platzes, auf dem nur ein Eckgebäude überdauerte. Als Testfall postmoderner Stadtreparatur war das kahle Rund seit 1976 zur Wiederherstellung innerstädtischer Identität vorbestimmt, um der funktionalen Tristesse angrenzender Bauten ein Ende zu setzen. Mit von der Partie waren, außer Böhm, noch die Architekten Carlos Aymonino und Rob Krier, dessen Stadtvillen im Tiergarten schon originaler als die faschistischen Botschaftsbauten sein wollten. Geplant ist ein städtischer Raum, der im Rhythmus der ehemaligen Berliner Straßenfronten und Platzanlagen ein Bild großbürgerlicher Baukultur simuliert und architektonische Struktur, Geschosse und Verkleidung dem Aussehen der eklektizistischen Monumentalschuppen der Jahrhundertwende anpaßt, ohne diese Traditionen sklavisch nachzuahmen. Ziel ist, den Prager Platz wieder zum Erlebnisraum aus verwandelter Typologie zu machen, der, so Böhm, einer theatralischen Situation gleichkommt, ähnlich wie Charles Moores Disney-Tegel.

Die Rhetorik der Autoren besteht nun darin, der Frage nach postmoderner Architektur am Prager Platz mit dessen bunter Geschichtsträchtigkeit zu antworten. Denn trotz des baulichen Surrogatschwindels, der heilen Welt bunter Markisen und rumpelnder Trambahnen, trotz der geographischen Nabelschnurlage zur Mitte der Reichshauptstadt sind solche Zeugnisse der Architektur und der Baugeschichte für die Wiederherstellung des Platzes im Sinne eines nostalgisch -metropolitanen Renommees notwendig, weil kulturell angeblich wichtig.

Zugleich, und mit Recht, werden Nachkriegsplanungen ausgekramt - phantastische Ausgrabungen irrer Stadtplanung aus Entwurfsseminaren dogmatischer Funktionalisten - um zu zeigen, wie die städtische Topographie mit Wohnzeilen und Autobahnen zugepflastert und der Prager Platz zur verkehrseuphorischen Zapfsäule verwandelt worden wäre, hätte nicht postmoderne Einsicht dem blindwütigen Fortschrittsoptimismus, der das Gelände zum geschichtslosen Terrain machte, ein Ende gesetzt.

Endlich, im Sog innerstädtischer Revitalisierung und der Kritik der klassischen Moderne, so das Buch, finden Böhm und Krier auf dem leergefegten Platz „Spuren“, die historische und kulturelle Anbindung für Neuplanungen garantieren, „wobei die Stadtrekonstruktion deutlich auf die städtische Struktur, auf die Metrik des städtischen Raums Rücksicht nehmen muß (...), um Bindungen zu wahren.“

Fast zwangsläufig verschwindet in der insgesamt dreimal aufgetischten Beschreibung zur Geschichte und städtebaulichen Entwicklung des Prager Platzes, zwischen mikroskopisch kleinen Grund- und Aufrissen und ansehnlichem Fotomaterial ein Interview mit einem interessanten Detail zum Zitatendschungel, das Claus Baldus mit Böhm führte. Dort steht der Satz, im Sammelsurium postmoderner Ideologie versteckt, zwischen Kontinuität und Tradition, Symbol und Zeichen, daß gerade in der zierlichen Imitation die Gefahr liege, Geschichte zu verraten, und in der Überwindung historischer Formen das Neue am Bauen zu suchen sei, so wie Böhms Saarbrücker Schloßrekonstruktion aus Glas und Stahl es tat.

Daß mit dem Zitat großbürgerlicher Kästen zugleich die Hoffnung einhergeht, die städtischen Turbulenzen der frühen Jahre im erneuerten Prager Platz wiederzubeleben, bleibt angesichts der oben angetroffenen Alten fragwürdig. Denn stillgesetzte Zeit, auch wenn sie verwandelt daherkommt, schließt das Lebendige aus, nach dem die städtische Revitalisierung immer schreit. Lebendig ist die Stadt zudem immer nur dort, wo der Rekonstruktionseifer noch nicht zugeschlagen hat.

rola

Schriftenreihe zur IBA Berlin 1984-87 - Die Neubaugebiete Band 6 Der Prager Platz, Hrsg. von Josef Paul Kleihues im Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1989, 38 DM.