Der romantische Existenzialist

■ Der amerikanische Schriftsteller John Hawkes gilt noch immer als Geheimtip. Anläßlich des Erscheinens seines Romans „Der Kannibale“ war er für einige Tage in Deutschland. Martin Pesch sprach mit ihm.

In den USA gehört John Hawkes neben einigen anderen Autoren wie John Barth oder William Gaddis zu den Erneuerern des zeitgenössischen Romans. Nach und nach erscheinen nun (zwei Übersetzungen aus den sechziger Jahren sind längst vergriffen) seine Werke auch in deutscher Sprache. Der Suhrkamp-Verlag brachte „Travestie“ heraus und „Abenteuer unter den Pelzhändlern in Alaska“, das einzige Buch Hawkes‘, das einen autobiographischen Hintergrund hat, obwohl es von einer älteren Prostituierten erzählt wird. Im Peter-Selinka -Verlag erschien vor Jahresfrist „Il Gufo - Der Henker von Sasso Fatore“, eine 90seitige Parabel auf das erstarrte Leben unter faschistischer Herrschaft. Über 40 Jahre nach dem Erscheinen in Amerika brachte derselbe Verlag - hier wird die Edition auch fortgesetzt - nun Hawkes‘ Debütwerk „Der Kannibale“ in die deutschen Buchhandlungen. Der Roman entfaltet merkwürdig und eigenwillig ein erschreckendes wie fesselndes Szenario; in ihm erzählt der Nazi Zizendorf die Geschichte der von ihm initiierten „Befreiung“ von den amerikanischen Besatzern. Entstanden ist ein Werk, das literarisch wohl alles, was es an deutscher „Bewältigungsliteratur“ gibt, in den Schatten stellt.

taz: Als Sie „Der Kannibale“ schrieben, waren sie relativ jung, Anfang 20. Können Sie kurz etwas über Ihre Jugend sagen, über Einflüsse oder Leseerfahrungen?

John Hawkes: Mein Leben verlief nicht besonders gradlinig. Ich wurde 1925 geboren, 1929 begann die große Wirtschaftskrise und die Familie meines Vaters verlor alles. Als ich zehn war, zogen wir nach Alaska. Ich ging zur Schule, aber ich lernte eigentlich nichts, wir hatten auch keinerlei Bücher. Mit 15 kam ich zurück nach New York. Nach der Schule ging ich nach Harvard, die College-Zeit dort wurde oft unterbrochen, erst durch die Armee und dann war ich als Krankenwagenfahrer im American Field Service in Europa. Zwischen 1947 und '49 heiratete ich, schrieb Der Kannibale und beendete das College. Erst als ich halb mit dem Roman fertig war, erkannte ich, daß es wundervolle Schriftsteller gibt: Faulkner, Kafka, Djuna Barnes. Ein bißchen schrieb ich so wie sie, aber ich sah auch die großen Unterschiede. Meine ganze Jugend über schrieb ich Gedichte, aber die waren sehr, sehr schlecht.

Sie waren am Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland. Greifen Sie in dem Roman auf reale Erlebnisse zurück?

Das Buch ist eine Vision, und sie spielt in einem imaginären Deutschland. Sehr wenige wirkliche Eindrücke meiner Zeit in Deutschland tauchen in dem Buch auf. Auf unserem Weg von Italien nach Bremen verbrachten wir eine Nacht in einem leeren Flügel einer belgischen Irrenanstalt. Wir hörten dort noch die schreienden Patienten, das machte zum Beispiel einen großen Eindruck auf mich, aber es ist sehr schwer, Dinge, die im Roman auftauchen, mit wirklichen Erinnerungen zu verbinden. Ich beschrieb ein absurdes, universales Deutschland, einen Archetyp der Zerstörung, der Unbarmherzigkeit.

Als ich den Roman las, kam er mir oft wie die Beschreibung eines Alptraums vor.

Das mag ja sein, aber man darf die alptraumhafte Darstellungsweise in meinem Roman nicht mit dem damals realen Alptraum verwechseln. Der ist unvorstellbar entsetzlich. Der Kannibale ist eine Art dichterischer Blick auf den Kern der Zerstörung und auf die Geisteshaltung, die sie verursacht.

Was weiter auffällt, ist der ironische Abstand zu den historischen Ereignissen, etwas, das das Buch sehr von deutscher Nachkriegsliteratur unterscheidet. Ist dieser Abstand typisch für die amerikanische Sicht und resultiert er daraus, daß die Amerikaner den Krieg nie im eigenen Land erlebt haben?

Es ist sicher richtig, daß die Amerikaner ihr Land nie als Schlachtfeld erfahren haben. Als ich Der Kannibale schrieb, versuchte ich die deutsche Sichtweise auf die damalige Situation zu übernehmen. Und die Deutschen in dem Roman haben alle die Zerstörung erlebt, den Horror und den Tod. Die Figuren erleben den Schrecken doppelt: den entsetzlichen Krieg und danach Besetzung durch fremde Invasoren. Die deutschen Protagonisten sind stereotype Repräsentanten einer Sorte von Menschen, die unter der Katastrophe leiden, die aber auch ihren Teil Schuld tragen. Mein Gedanke war, mir diesen doppelten Schmerz vorzustellen: Das eigene Land ist zerstört, und in den Augen der Welt steht man als Angeklagter da. Das Vorhaben, den deutschen Standpunkt einzunehmen, führte zu der Vorstellung, daß der Erzähler selbst sehr losgelöst von seiner Umwelt ist.

Darf man die Tatsache, daß am Ende des Romans der besiegt geglaubte Nazismus wieder erstarkt, als Pessimismus deuten?

Darüber dachte ich noch nicht sehr viel nach. Vergessen Sie nicht eine wichtige Stelle in dem Buch: Der nazistische Erzähler Zizendorf ist nicht an dem Ort, an dem er seine Bewegung gegründet und sie von den Invasoren „befreit“ hat. Wegen dieser Ungewißheit, ob sein politischer Plan nun verwirklicht wurde oder nicht, ist das Buch für mich nicht wirklich pessimistisch. Aber da ist natürlich eine bleibende Warnung: Es besteht immer die Gefahr von Totalitarismus, Rassismus, Antisemitismus, Ausbeutung, und es braucht unsere stete Aufmerksamkeit, dies zu verhindern.

Ich kann mir Einwände von Lesern und Rezensenten vorstellen, daß Sie einen klaren antifaschistischen Standpunkt - besonders auch in „Il Gufo“ - hinter Ästhetik, hinter Ihrem Bilderreichtum verstecken und so den Faschismus in gewissem Sinne verharmlosen.

Oh, das wäre sehr ungerechtfertigt, weil die Verbindung von Kunst und Antifaschismus für mich eine absolute Notwendigkeit darstellt. Ich bin allerdings kein Journalist und kein Dokumentarist, ich arbeite eher im Stile eines Munch, Schiele oder eines Goya. Man könnte zu Goyas Werk sagen: Schau, der macht sich aus dem Krieg einen Spaß, er nimmt ihn sehr leicht. Aber ich glaube, daß man gar nicht so lange hinschauen muß, um zu erkennen, daß seine Gemälde von einem sehr dunklen, bitteren Geist zeugen. Ich denke, wenn jemand Der Kannibale liest und sagt, hier sei der Faschismus verharmlost, hat er das Buch nicht genau gelesen. Der Kannibale ist ein sehr ernsthaftes Buch, gerade weil es absurd erscheint, genauso wie die Bilder Goyas. Wenn jemand in seinem Zimmer zerstümmelt wird, so ist die Szene in gewissem Sinne absurd, weil der Vorgang unbegreiflich ist. Wenn wir das als Comic sehen, heißt das nicht, daß wir uns darüber lustig machen, sondern daß wir den Schmerz spüren, absolute Hoffnungslosigkeit. Es ist für uns ziemlich unvorstellbar, den Holocaust miterlebt haben zu müssen. Es kann als barbarisch angesehen werden oder auch als lächerlich. Der Schrecken ist dermaßen unvorstellbar, daß es schwierig ist, dafür eine Form zu finden, und als Künstler ist dies nur mit einem großen Abstand möglich. Ich hoffe also nicht, daß die Leser den Kannibalen mißverstehen, denn am Ende ist ja auch diese schreckliche Warnung, daß der Nazismus wieder hochkommt. Ich denke, daß dieses Land, gerade zur Zeit ist das offensichtlich, ein starkes rechtsextremes Potential besitzt. Und nicht nur hier ist das so, die ganze Welt ist voller Konservatismus, reaktionärer Ideen; in den USA gibt es z.B. eine große, mächtige konservativ-religiöse Verbindung. Das allles zeigt die Art von Haltung, die Art von Philosophie, aus der Totalitarismus entspringen kann. Ich fragte mich auch, warum das Buch hier 40 Jahre nicht verlegt wurde. Doch nicht, weil es angeblich den Nazismus trivialisiert, sondern weil das Thema zu schwierig, zu gefährlich und zu niederdrückend ist. So ein Buch wollte man nicht lesen und es schon gar nicht als Kunstwerk anerkennen. Selbst heute noch - das spüre ich nach der kurzen Zeit, die ich hier bin - sind die historischen Ereignisse zu überwältigend.

Ihr Werk ist geprägt von einer starken Dualität. Im „Alaska„-Buch heißt es einmal: „Katastrophe und Triumph waren Zwillinge im Haus des Schicksals„; in „Travestie“ gibt es das Wechselspiel zwischen „Trip und Trümmer“, in „Il Gufo“ ist es das zwischen den Farben Schwarz und Weiß. Gibt es für sie das Gute und das Böse und nichts dazwischen?

Sie sind nicht voneinander zu trennen, denke ich. Es gibt Extreme wie diese Theorie des Erzählers in Travestie, daß alle Schöpfung in Trümmern enden wird. Aber es ist auch so, daß aus Trümmern die Schöpfung entsteht, daß Phoenix aus der Asche steigt. Es ist offensichtlich, daß der Kreislauf der Regeneration ein Kern meiner Fiktion ist. Richtig deutlich wurde mir das erst, als ich anfing, Travestie zu schreiben, und dieser paranoide, schizophrene Erzähler spricht teilweise für mich. Ich glaube, daß Gestaltung und Verfall sehr eng zusammenhängen und beide sind gleichermaßen vorhanden und wichtig. Wir sollten niemals selbstzufrieden sein, denn alles, was wir erreicht haben, ist ständig dem Prozeß des Verfalls ausgesetzt. Schau dir New York City an, sie kämpfen gegen den Verfall, aber es wird schlechter und schlechter, und die Menschen dort verlieren den Glauben an die Gesellschaft, denn es scheint, je mehr diese Gesellschaft an Gestaltung hervorbringt, desto größer wird ihr Leiden daran. Es ist nicht so, daß die Welt schwarzweiß ist, aber es gibt diese Extreme, und wir leben in einer seltsamen Mitte. In jedem Menschen steckt ein Verbrecher genauso wie das Potential zu dem, was wir als das Ideal ansehen. Es gibt immer beides. Ich nannte mich selbst einmal einen existenzialistischen Romantiker oder einen romantischen Existenzialisten, und ich weiß nicht, was davon richtig ist.

Ihr Sinn für Humor hat in der bisherigen Rezeption Ihres Werkes wenig Beachtung gefunden. Sind Ihre Romane nicht immer auch Komödien?

Humor zieht sich durch mein ganzes Werk. Sicher ist er in Der Kannibale und in Il Gufo sehr bitter, absurd und ironisch. So ist es auch in The Beetle Leg oder in The Lime Twig. Alle diese frühen Bücher sind vornehmlich poetische, dichterische Werke. Als ich mit Second Skin anfing, wollte ich das komische Element klarer herausstellen. Die Komödie hat meist mit sehr menschlichen Fehlern zu tun, wir lachen darüber und können sie so leichter ertragen. Es gibt eine Szene in dem „Alaska„-Buch, in der der von Uncle Jake beleidigte taubstumme Mann anfängt, meisterhaft auf dem Klavier Schumann zu spielen. Das ist so ein kleines Beispiel von Kunst, wie ich sie sehe: Komödie, Schmerz und Schönheit sind auf das engste miteinander verbunden; in der höchsten Form der Komödie lachen wir nicht mehr, weil eine hohe Art der Harmonie erreicht ist. Auch in dem Roman The Blood Oranges versuche ich das zu erreichen. Er spielt an einem Ilyria genannten Ort, einem Paradies. Aber mein Paradies ist sehr nah an der Hölle.

Es fällt schwer, die meisten Ihrer Romane nachzuerzählen. Wenn man meint, etwas erkannt zu haben, ist es schon wieder weg. In „Die zweite Haut“ wird einmal gesagt: „Aller Wahrscheinlichkeit nach ist mein eigentliches Thema einfach der Wind.“

Als ich jung war, sagte ich, daß Plots, Charaktere und Lokalitäten die größten Feinde des Romans seien. Aber ich sage das, weil die Leute es damals hören wollten. Als ich Der Kannibale schrieb, dachte ich nicht, es sei etwas Ungewöhnliches. Ich wollte nur die Geschichte über einen imaginären Krieg, ein imaginäres Deutschland oder Amerika schreiben. Ich machte mir wirklich keine großen Gedanken. Ich glaube weder an die freie Assoziation noch an Kontrolle beim Schreiben, aber ich bin interessiert an dem, was das Unterbewußtsein dem Roman an Bildern und Energie liefern kann. Mein hauptsächliches Anliegen ist die Sprache; Sprache, die Leben transportiert und Frische, die Möglichkeiten in sich trägt und die Zukunft.