Wortpfeile und Schreibfedern

■ Beobachtungen zum 20.Geburtstag der modernen indianischen Literatur der USA

Wolfgang Hochbruck

Ob der Natick-Indianer Caleb Cheeshateaumauk geahnt hat, daß er das erste heute bekannte Stück indianischer Literatur schrieb, als er 1660 an der Rede feilte, mit der er sich als erster eingeborener Hochschulabgänger von der Harvard -Universität verabschieden wollte? Wahrscheinlich nicht. „Honortissimi Benefactora...“: Cheeshateaumauk schrieb in bester universitärer Tradition Lateinisch. Von den Segnungen der Zivilisation ist da die Rede und von der Erleuchtung durch die christliche Lehre, verbunden mit der Hoffnung, daß allen unwissenden Helden das selbe Heil zuteil werde. Kein indianischer Autor könnte so etwas heute noch im Ernst schreiben. Zivilisation, speziell die amerikanische Variante, und die Mission, deren vordringlicher Effekt weitgehende Zerstörung und Überformung der traditionellen Glaubens- und Gesellschaftsformen war, sind Themen, an denen sich die Literatur der Autoren indianischer Abstammung reibt, die sie auf- und angreift, und zu denen das Verhältnis letztlich doch gebrochen bleiben muß: Der Roman, schriftliche Literatur überhaupt als künstlerische Form, kam auch mit den Anderen, den Transplant Americans, wie der Cherokee Thomas Sanders sie nennt. Überdies sind die „verpflanzten Amerikaner“ für die meisten Autoren und Autorinnen auch Teil der eigenen biographischen Realität: Der Ojibway Gerald Vizenor hat französische Pelzhändler unter seinen Vorfahren, Louise Erdrich ist deutschstämmig, der Vater der Laguna-Pueblo Dichterin Paula Allen war Libanese. Die wenigsten GegenwartsschriftstellerInnen sind ohne Vorfahren aus anderen Bevölkerungsgruppen, die wenigsten sind, wie der Acoma-Pueblo Simon Oritz, in beiden Kulturen aufgewachsen und der Sprache der eigenen Kultur mächtig. Englisch hat die Ureinwohnersprachen weitgehend verdrängt, eineMixedblood-Familiengeschichte ist die Regel. Dabei reklamieren viele eine indianische Identität, die zum Teil nur einen Groß- oder sogar Urgroßelternteil tribaler Abstammung vorweisen können gegenüber einer Mehrzahl weißer Vorfahren. Wer dagegen auch noch im Amerika der achtziger Jahre irgendwie aussieht wie ein Schwarzer, ist schwarz, Punkt. Noch niemand ist auf die Idee gekommen, Alice Walker oder Melba Boyd, die beide indianische Vorfahren haben, als Indianerautorinnen zu reklamieren.

Native American Literature ist 20 Jahre, nachdem N.Scott Momaday für House Made of Dawn („Haus der Morgendämmerung“, in neuer Ausgabe bei Eugen Diederichs) den begehrten Pulitzer Preis bekam, eine etablierte Form innerhalb des Zusehens, beziehungsweise -lesens bunter werdenden Bildes ethnischer Literaturen in Nordamerika. Auch in Kanada melden sich Indianer jetzt schriftlich zu Wort mit den üblichen zehn bis fünfzehn Jahren Verspätung auf die Nachbarn südlich der Grenze. Und hier wie dort ist Native American Literature etwas, an dem viele mitschreiben, und von dem so recht niemand sagen mag oder kann, was es eigentlich ist. Definiert man Indianerliteratur ethnisch -biographisch, dann gehören auch die literaturwissenschaftliche Dissertation Momadays über den amerikanischen Minderdichter Tuckermann dazu und die Kriminalromane des Choctaws Todd Downing aus den dreißiger Jahren. Definiert man sie beschränkt auf indianisches Sujet, fallen wieder andere Werke durch das Sieb, während andererseits zahllose „indianische“ Werke weißer AutorInnen herandrängen: „Ein Indianer ist jemand kraft der eigenen Imagination von sich selbst.“ Das ging solange gut, bis die panindianische Zeitschrift 'Akwesasne Notes‘ 1984 einen der erfolgreichsten aus den Reihen der Indianerautoren seiner auch öffentlich zur Schau getragenen Regalia entblößte: Jamake Highwater, selbstimaginierter Schwarzfuß-Indianer, hieß eigentlich Gregory Markopulos und war Sohn griechischer Einwanderer. Die wenigsten seiner Kollegen nahmen diese Eulenspiegelei komisch, obwohl Highwater/Markopulos‘ Versteckspiel mit der eigenen Identität Züge der klassischen Trickser-Geschichten trägt, die in nahezu allen indianischen Kulturen beheimatet sind. Trickser (Koyote, Nanabush, Napi oder wie auch immer die jeweiligen Kulturen diese Figur benennen) ist für die Grenzbereiche zuständig, die Tabuzonen. Ständig verletzt er die Anstandsregeln, übernimmt sich, fällt selber auf die sprichwörtliche Schnauze. Belehrende Komik.

Dabei ist auffällig, wie wenig humorvoll die literarischen Werke indianischer Autoren bis vor wenigen Jahren waren. Trostlosigkeit durchzieht sämtliche Werke der ersten Hälfte des Jahrhunderts: Alkoholismus, Entrechtung und Verzweiflung sind die Themen dieser heute zumeist zu Recht in Vergessenheit abgesunkenen Literatur. „Wir hatten es mit ernsten Problemen zu tun“, sagte Scott Momaday kürzlich bei einer Lesung in Freiburg, „und deshalb waren wohl auch die Romane so ernst.“ Auch Haus der Morgendämmerung und der altverwandte Erstling von Leslie Silko, Ceremony, sind bittere Geschichten über Veteranen, die völlig verstört aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause zurückkehren und erst in einem langwierigen, mühsamen und schmerzhaften Prozeß wieder in ihre Gemeinschaften zurückfinden. Kein Wunder, daß beide Werke vor allem unter den jungen Männern zirkulierten, die das Vietnamerlebnis sich und ihren Familien und Freunden entfremdet hatte. Wie ein Bekannter, heute Student an einer Universität im Westen der USA, erzählte: „Da war einer, dem es auch so gegangen war. Der ist eigentlich schon erledigt, aber die traditionellen Zeremonien holen ihn wieder zurück. Geholfen hat das nicht. Aber Mut gemacht.“ Die unausgesprochen didaktische Absicht hinter diesen Romanen hat in der indianischen Literatur Tradition: Ihr erster „Bestseller“ mit elf Auflagen war die Anti-Alkohol-Predigt, die der Mohikaner Samson Occom 1771 anläßlich der Hinrichtung eines StammesgenossInnen hielt, der im Vollrausch einen Menschen erschlagen hatte. Auch Silkos Tayo und Momadays Abel wenden sich vorbildhaft vom Alkohol ab. Ohne Moral kam in den Siebzigern nur James Welch (Winter im Blut) aus, dessen Stil an Hemingway erinnert und dessen „Helden“ mit der lakonischen Melancholie von Vonneguts Billy Pilgrim durch die Geschichten stolpern. Welch war der einzige, der sich in dieser ersten Phase der ernsten Probleme und dunklen Romane gelegentlich wie einen Lichteffekt etwas Humor leistete - der dann aber so spezifisch indianisch ausfiel, daß er an der Mehrheit der anderen LeserInnen und den RezensentInnen meilenweit vorbeiging.

1989: Die politische und soziale Lage der Indianer in den Vereinigten Staaten und Kanadas ist im Vergleich zu 1968 geradezu konsolidiert. Zahlenmäßig nimmt die indianischstämmige Bevölkerung in einem Maße zu, das mit biologischer Reproduktion nicht mehr zu erklären ist Menschen bekennen sich wieder zu ihrer „roten“ Abstammung. Probleme und Konfrontationen werden von den Medien manchmal mit spektakulärem Elan aufgenommen. Zur Zeit sind alte Knochen und Grabplünderungen ganz oben auf der Liste mit seitenlangen Artikeln in allen großen Zeitungen. Die relative Beliebigkeit einer Postmoderne, die sich auf dem Weg in die postindustrielle Gesellschaft befindet, schlägt sich auch in der Literatur indianischer AutorInnen nieder. Die Truthahnherzen für den Liebeszauber in Louise Erdrichs gleichnamigem Roman stammen aus der Tiefkühltruhe und bleiben dem Bezauberten (deshalb?) fatalerweise im Halse stecken; die Trickser-Typen in Gerald Vizenors schnurrigen Geschichten lassen auf dem Markt in China sämtliche Hühner frei, fliegen mit Ultraleichtflugzeugen herum und lassen sich nicht existierende Orangenplantagen in Minnesota (!) mit den Geldern wohlmeinend-paternalistischer Stiftungen finanzieren. Was Vizenors Griever, die Geschichte eines amerikanischen Affenkönigs in China, verdüstert, ist nicht das Fehlen komischer Motive im Roman, sondern die brutal -reaktionäre Realität der Funktionäre und Schlächter vom Tiananmen-Platz, vor denen der Autor in dem 1986 erschienenen Werk bereits prophetisch gewarnt hatte auf die Gefahr hin, sich in der seinerzeit herrschenden Phase der Chinabegeisterung unbeliebt zu machen. Welch legte mit Fools Crow im Jahr darauf ein Werk vor, das in bester Autorentradition wieder von verstecktem Humor und manchmal boshafter Komik voll ist. Das Verhältnis zur mündlichen Tradition wird nicht mehr wie in der Phase des politischen Radikalismus andächtig zelebriert und in jedem Zweizeiler beschworen, sondern erscheint aus den Gegenwartsverhältnissen wesentlich angemessener gebrochen -ironischer Distanz. Theatergruppen wie Be-ba-jeh-mu-jig (was Ojibway ist und „Geschichtenerzähler“ heißt) verpflanzen den Trickser Nanabush mitten unter die Alltagswidrigkeiten des Reservationslebens, und es fliegen die Fetzen: Zur Freude eines Publikums, das zum Teil täglich mit diesen Widrigkeiten herumquerelt. Momadays neuer Roman schließlich, der im September auf dem amerikanischen Buchmarkt erscheinen wird, verspricht, die neu-alte Trickser -Komik in der indianischen Prosa zu neuen Höhepunkten zu treiben. Mit der Frage nach der indianischen Literatur der Achtziger als Postmoderne aus der Feder des Indianerautors (seiner einzigen, und auch die wird zusehens durch Personalcomputer ersetzt) geht es wie mit Steuerhinterziehung: Viele tun es, keiner mag es zugeben; jeder weist mit dem Finger auf den Nächsten. Es drängt sich der Verdacht auf, mit dem postmodernen Roman verhalte es sich wie mit den legendären Kannibalen - Wir doch nicht! - aber die auf der Nachbarinsel...

Man könnte an Absprache glauben. Wäre da nicht das Netzwerk offener und unterschwelliger Animositäten der Autoren untereinander. Welch gibt seit Jahren keine Inteviews mehr, um da nicht mit hineingezogen zu werden. Als Louise Erdrich 1984 und 1986 mit Love Medicine und The Beet Queen (Liebeszauber, beziehungsweise Die Rübenkönigin auf Deutsch bei Rowohlt) größere Publikumserfolge landete als alle anderen jemals vorher, entstand das bekannte Symptom des „neuen Kinds in der Klasse“.

Native American Literature gehorcht denselben Gesetzen von Angebot und Nachfrage wie andere Literatur auch. Die kann auf einen autochthonen Hintergrund verweisen, das ist ihr Vorteil, und das hebt sie aus dem mainstream und den anderen „ethnischen“ Literaturen Nordamerikas heraus. Die wendet sich an zwei Sorten Publikum, auch dies eine Besonderheit: Die Leute des eigenen Volks, mit dem sich ein Autor identifiziert, und die allgemeine Leserschaft. Ob daraus eine Art Zensur der Gemeinschaft entsteht, hängt vom Grad der Integration der Autoren ab: Der Cheyenne Charles Storm/Hyemeyohsts flog 1973 raus, weil er in einem romantisierenden Machwerk traditonelles Gruppenwissen mitverbraten hatte. Die Lagunas dagegen lesen Silkos Bücher offenbar gerne und betrachten sie als etwas, was die mündlichen Traditionen weder verdrängt noch ersetzt, sondern daneben existiert, begleitet. Mehr noch: Was 1828 mit dem Cherokee Phoenix begann, der ersten Zeitung einer Indianernation für den eigenen Bedarf, setzt sich in Hunderten von Zeitschriften, Gedichtbänden und anderen Publikationen fort. Die Indianer Nordamerikas blicken 1989 auf eine schriftlichliterarische Tradition zurück, die mit Caleb Cheeshateaumauk begann und seit 150 Jahren integraler Bestandteil einer zunehmenden Zahl von Ureinwohnerkulturen ist. 20 Jahre nach dem Pulitzer Preis für Momaday ist die Literatur indianischer Autoren eine ernstzunehmende Größe im öffentlichen Leben der indianischen Gemeinschaften, die mit wachsendem Selbstbewußtsein und ökonomischem Geschick ihr Schicksal zunehmend selbstbestimmen.