Die Vergangenheit ist Zukunft

■ Essays des Anarchosozialisten Gustav Landauer entwerfen den Neubeginn am Rande des Kapitalismus

„Die Aufgabe, die der Anarchismus vor allem... zu erfüllen hat, ist in erster Linie: Individualitäten wecken...“: Seit den sechziger Jahren hat das Interesse an gesellschaftlichen Gegenentwürfen zum Kapitalismus und Industrialismus allmählich zugenommen. Dies gilt insbesondere auch für libertäre Utopiemodelle - wie eine kaum noch zu überblickende Anzahl „klassischer“ und aktueller Literatur von AnarchistInnen und über den Anarchismus beweist.

Zu denjenigen, die inzwischen - wenn auch nur ansatzweise wieder rezipiert werden, gehört der Kulturphilosoph und freiheitliche Sozialist Gustav Landauer (7. April 1780 bis 2. Mai 1919), der neben Erich Mühsam, Rudolf Rocker, Ernst Friedrich , Augustin Souchy und anderen zu den bedeutendsten deutschsprachigen Anarchisten zu zählen ist.

Aus Anlaß des siebzigsten Todestages hat der Luchterhand Literatur-Verlag eine Sammlung wichtiger, auch heute noch aktueller Aufsätze dieses vielseitigen Libertären herausgebracht. Der mit einem instruktiven Vorwurf sowie ausführlicher Bio-Bibliographie versehenen Band gibt vor allem Auskunft über Landauers Reflexionen über den Anarchismus, wobei der Herausgeber betont, daß Landauer neben zahlreichen Essays auch Belletristik schrieb sowie als Literaturkritiker, Übersetzer und emsiger Vortragsredner wirkte.

Landauers Konzeptionen, geprägt von Pierre-Joseph Proudhon, Peter Kropotkin, Leo N.Tolstoj, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Hölderlin und Friedrich Nietzsche, nahmen Einfluß auf das Denken Erich Mühsams und Philosophen wie Martin Buber, Walter Benjamin und Ernst Bloch. Zudem hielten seine Schriften Einzug in die deutsche Jugendbewegung und beeinflußten nachhaltig die Kibbuzimbewegung in Palästina.

Landauers „Anarchismus ohne Adjektive“ fühlte sich den libertären Prinzipien der Gegenseitigkeit, freien Vereinbarung, Selbstbestimmung, freiwilligen Assoziation und Föderation verbunden. Den Schwerpunkt seines gesellschaftlichen Engagements legte er weniger auf den ökonomischen und politischen Kampf als vielmehr auf die grundlegende Bewußtseinsveränderung der Menschen. Seine Bemühungen, Hierarchie und Herrschaft abzubauen, zielten auf die Staatslosigkeit, für ihn gleichbedeutend mit dem Ende der menschlichen Ausbeutung und der Möglichkeit einer selbstbestimmten Entwicklung aller Individuen. Anarchie beschrieb Landauer hierbei als höchsten Ausdruck der Freiheit und Freiwilligkeit.

Diese Kulturbewegung, die für ein exemplarisches Beginnen der Menschen „hier und jetzt“ plädierte, stand quer zu allen fortschrittsgewissen Geschichtsauffassungen - einschließlich der marxistischen. Nicht als einmaligen und abgeschlossenen Prozeß, sondern allein als ewige Revolte gegen sämtliche Determinierungen, die der Vielfalt des Lebens entgegenstehen, solle der Anarchismus seinen Platz in der Geschichte einnehmen - allerdings nur außerhalb des bestehenden Staatsgefüges. Dieser beispielgebende Neuanfang in überschaubaren, genossenschaftlichen und selbstgewählten Zusammenschlüssen am Rande des Kapitalismus verfolgte eine Verbindung landwirtschaftlicher, handwerklicher, kleinindustrieller und geistig-kultureller Tätigkeiten.

Gustav Landauers ökolibertäres Postulat eines sofortigen Austritts aus Staat, Industrialismus und Kapitalismus bei gleichzeitiger Gestaltung einer Gemeinschaftsordnung ohne Zwang, Hierarchie und Konkurrenz, also eines ethischen Gemeindesozialismus, zielte auf eine Umkehr, einen Neubeginn, die Wiedergewinnung sozialer Beziehungen sowie den Wiederanschluß an die Natur. Seine großindustriefeindliche, antikapitalistische Räte -Gemeinschaft ruhte auf den beiden Grundideen Dezentralisation und Föderation: vom Bezirk über den Kreis und die Provinz, zur Republik, zum Bund deutscher Republiken bis hin zum Völkerbund.

Dem Herausgeber des vorliegenden Essaybandes ist zuzustimmen, wenn er Landauers kommunalistischen Anarchismus auch nach über 70 Jahren „zumindest gedanklich als eine begründete Alternative sowohl zur westlichen Massendemokratie als auch zum bürokratischen Sozialismus Osteuropas“ sieht und ihm somit eine zentrale Bedeutung für das utopische Denken in unserem Jahrhundert zukommen läßt. Daß Landauers kommunitärer Entwurf eines föderalistischen Gemeinschaftssozialismus keineswegs veraltet erscheint, ergibt sich auch daraus, daß einige seiner Ansätze von der heutigen Gegen- und Alternativkultur aufgegriffen wurden.

Birgit Seemann

Gustav Landauer, „Auch die Vergangenheit ist Zukunft. Essays zum Anarchismus“. Herausgegeben von Siegbert Wolf. Frankfurt a.M. 1989 (Luchterhand Literatur-Verlag), 304 Seiten, 24,80 DM