Homosexuelle Subkultur gesamtdeutsch

■ 14 schwule Männer aus der DDR berichten von unbeugsamen Tunten, Coming-out-Dramen und stinknormalen Vorurteilen / Aggression und Häme sind alltäglich

„Geh doch nach drüben“, und du findest das Gleiche wie hier. So jedenfalls, möchte man meinen, stimmt es für die Situation schwuler Männer diesseits und jenseits der gesamtdeutschen Grenze. Diesen Schluß legt die Lektüre von Ganz normal anders nahe, einem Protokollband 14 schwuler Lebensläufe aus dem Arbeiter- und Bauernstaat. Herausgegeben wurden die Aufzeichnungen von Jürgen Lemke, Wirtschaftswissenschaftler und Mitarbeiter einer interdisziplinären Arbeitsgruppe der Ostberliner Humboldt -Universität, die sich seit 1985 mit dem Thema Homosexualität befaßt. Das Buch erschien letzten Monat gleichzeitig in einer Auflage von 30.000 Exemplaren in der DDR und 5.000 in der BRD.

Mag es für uns noch exotisch klingen, wenn der LPG-Bauer R. berichtet, wie er seine Frau mit einem Mann betrügt oder wenn Volker erzählt, daß er für Peter und sich eine Zweiraumwohnung beantragt, so hinterläßt die genaue Lektüre eine Fülle von Details, die dem Leben schwuler Männer im kapitalistischen Westen ähneln. Da passieren die gleichen Dramen beim Coming Out, mit den bösen oder betont liberalen Reaktionen der Familie, den Freunden und den Vorgesetzten beim ersten schwulen Schritt nach außen. Die schwule Subkultur mit Bahnhofsklappe und Plüschlokal wird genauso erlebt wie hier: feindlich-fremd und gleichwohl als Familienhort. Die sozialistischen Heterosexuellen stecken in denselben Vorurteilen und können nur ebenso mühsam ihre Verachtung verbergen hinter so unverschämten Komplimenten wie: „So schwul siehst du doch gar nicht aus.“

Und der Alltag im Paarverbund gestaltet sich ähnlich schwierig, aufgerieben zwischen der Anpassung an das heterosexuelle Vorbild und der Einsicht in die Besonderheit, daß zwei Männer es miteinander versuchen. Die mögliche Toleranz der Umgebung steigt drüben ebenso mit der Einwohnerzahl, im Dorf ist's schwer, Leipzig bietet Offenheit, besonders zur Messezeit, und die ultimative schwule Metropole ist Ost-Berlin.

Von der Kontinuität schwuler Unterdrückung berichtet der inzwischen verstorbene Arbeiter Erich, der von 1935 bis 1945 als „Hundertfünfundsiebziger“ in Haft saß, von der Prinz -Albrecht-Straße zum Columbiadamm, von der Lichtenburg nach Esterwegen, von Sachsenhausen nach Flossenbürg: „Wir haben immer und überall, in jedem Lager, die schwerste und mistigste Arbeit machen müssen.“ Beim Lager-Fußballturnier spielen die Schwulen immer gegen die Juden um den letzten Platz, und im Häftlingspuff lernt Erich die lesbische Kellnerin Else kennen: „Lesbische Frauen steckten die Nazis besonders gern in Bordelle.“

Nach dem Krieg bekommt Erich Anfang der fünfziger Jahre eine Wohnung am Prenzlauer Berg zugewiesen: „Vor meinem Einzug ging der Abschnittsbevollmächtigte von Haushalt zu Haushalt, da, wo junge Männer lebten, und informierte: Erster Hinterhof, Mitte, zwei Treppen, rechts, da zieht ab nächsten Ersten so einer ein. Vorsicht!“

Vom unbeugsamen Mut der Tunte erzählt Lothar, der Quentin Crisp von Mahlsdorf. Der Vater schlug ihn einst mit der Reitpeitsche: „Du bist kein Mädchen, du bist kein Mädchen“, doch Lothar dekorierte seine goldblonden Locken mit Haarspangen, trug fortan nur noch taillierte Mäntel, und zum Einkaufen nach Ost-Berlin fährt er nur in Damengarderobe: „Oberhemden, Anzug und Schlips scheue ich heute noch wie der Teufel das Weihwasser.“ Seine Kühnheit, als „weiblicher Mann“ zu leben, nennt er bescheiden „Zivilcourage“, obwohl Männer nur aggressiv auf ihn reagieren, Frauen mehr zu Häme neigen und Schwule ihn nur böse anzischeln: „Blöde Zicke, verfatz dich!“ Für seine Nebentätigkeit als Kleindarsteller beim Film hat er nur einen Wunsch: „Ich möchte nicht unbedingt einen Feldwebel spielen müssen.“

Bert ist 25, hatte „als einfacher Arbeiter bisher keinerlei Nachteile wegen meiner Veranlagung“, und auf dem letzten Hausfest tanzte sein Freund Rainer mit einem Mann aus dem Vorderhaus. „Stinknormal oder stockschwul“, für Bert sind das unnütze Kategorien, „Hausnummern, Schubkästen“. Auch er macht die Erfahrung, daß „viele Menschen sich von der Rakete weniger bedroht fühlen als von dem Klingelknopf an der Wohnungstür, hinter der zwei Schwule leben“, aber sich zu verstecken, kommt für ihn nicht in Betracht: „Einen anderen Weg gibt's nicht, nur so wird ein Schuh draus.“

Soll man der Intention des Herausgebers oder den Erzählenden selbst glauben? Einen Unterschied zum Westen, der solcherart authentische Lebensberichte trotz Schwulenbewegung und pseudoliberalem Mediengeschwätz nicht kennt, läßt sich ausmachen: Die Geschichten kommen aus ohne aufgeblasenes Emanzipationsgehabe und ohne heimelige Flucht in die Opferrolle. Die verschiedenen Männer der verschiedenen Generationen machen so viel Aufheben um die Besonderheit ihrer Normalität, wie sie nötig ist, sich und einander besser zu verstehen, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Anpassung und dem Drang nach Selbstbestimmung, ein Zwiespalt, der für Schwule beider Staaten gilt und dessen Lösung noch aussteht auf lange Sicht.

Elmar Kraushaar

Jürgen Lemke, „Ganz normal anders“, Luchterhand LiteraturVerlag, Frankfurt a.M. 1989, 261 Seiten, 29,80 DM

Jetzt auch in der DDR erschienen: Jürgen Lemke, „Ganz normal anders“, Aufbau-Verlag, Ost-Berlin 1989