Sprachlos in Pjöngjang

■ Ein Bericht über den Mikrokosmos der Propaganda des „geehrten Führers“ und „geliebten Leiters“ sowie den gescheiterten Versuch eines taz-Redakteurs, Nordkorea zu verstehen

Jürgen Kremb

Die wenigen unklaren und fast sagenhaften Berichte, die von Zeit zu Zeit in periodischen Blättern und Zeitungen über die das Königreich Corea bildenden Halbinsel veröffentlicht worden sind, haben nur in sehr geringem Maße zur Vermehrung der genaueren Kenntnisse dieses merkwürdigen Landes beitragen können, wie es denn eine kaum zu weit gehende Behauptung sein dürfte, daß diese Kenntnis im allgemeinen bis auf den heutigen Tag nur eine sehr beschränkte geblieben ist...(Ernst Oppert, 1880)

Es gibt Länder und Personen, da lassen sich Phantasie und Realität, Traum und Wirklichkeit, Paradies und Hölle nur schwer auseinanderhalten. Es ist schwer, die Grenze zu sehen, es ist noch schwerer, diese Grenze und den eigenen Standpunkt überhaupt zu finden. Das eigene Gehirn, Erfahrung, Wissen und kultureller Hintergrund rebellieren gegen das, was das Auge sieht und sehen darf, gegen das, was die Ohren hören und hören dürfen. Nordkorea ist für mich ein solches Land.

Dabei begann Pjöngjang ganz nah - in Ost-Berlin. Im Flughafen Berlin-Schönefeld begrüßt uns ein freundlicher Herr aus der nordkoreanischen Botschaft. Einfacher Anzug und ein Anstecker von Staatspräsident Kim Il Sung an der linken Brust. Wir sind so etwas wie Staatsgäste. „Vertreter der Arbeiterklasse Deutschland“ - so steht es zumindest im Programm für den „Internationalen Friedensmarsch“, an dem wir teilnehmen sollen.

Nordkorea zu bereisen, in des Wortes wahrem Sinne jedenfalls, ist fast unmöglich. Organisierten Tourismus gibt es nur in Ansätzen. Wenn Journalisten in den vergangenen Jahren in das fast vollständig isolierte Land kamen, dann nur mit einer Reisegruppe und unter falscher Berufsangabe. Erst Anfang Juli dieses Jahres öffnete sich das Land einer größeren Öffentlichkeit. Zum 13.Weltjugendfestival ließ die Regierung von Staatspräsident Kim Il Sung 10.000 Gäste vorwiegend aus sozialistischen Staaten - ins Land. Mit ihnen kamen 200 Journalisten. Sie berichteten von Einwohnern, die in vollen Geschäften kauften und ihre Waren an der Hintertür wieder abgeben mußten. In einer riesigen Materialschlacht hatte sich das Land aufgeputzt und präsentiert. Zum Erstaunen vieler mit einer gigantischen Fassade aus Beton und Marmor.

Akteure einer riesigen

Propagandamaschinerie

Wenige Wochen danach herrscht wieder der Delegationismus vor. Die einzige Art und Weise, wie sich der Ausländer dem nördlichen Teil der koreanischen Halbinsel, der Demokratischen Volksrepublik Korea und seinen 20 Millionen Einwohnern nähern kann, ist als Teil einer Delegation. Die Nordkoreaner hingegen kennen Fremde nur als Gute und Böse. Der nichtoffizielle Kontakt mit ihnen ist verboten. Ausländer treten nur im Fernsehen und Filmen auf - als Akteure in einer riesigen Propagandamaschinerie.

Die Bösen kommen als Infiltranten wie die Besatzung des US -Spionageschiffs Pueblo, die 1967 vor der Küste aufgebracht wurde. Sie sind Spione des „US-Imperialismus“, geschickt im Auftrag der Marionettenregierung im Süden.

Wir sind die Guten. Auch sie kennt der durchschnittliche Nordkoreaner nur aus dem Fernsehen. Sie treten stets in Begleitung von Offiziellen auf. Deren Rang und die Zahl der zur Verfügung gestellten Autos signalisiert die Bedeutung des Besuchs.

„Mit dem internationalen Friedensmarsch“, hatten unsere Kontaktpersonen in Deutschland und die Vorbereitungsgruppe in den USA gesagt, „soll ein Schwerpunkt für die Wiedervereinigung Koreas gesetzt werden.“ Im Süden des geteilten Landes würden rebellierende Studenten vom Berg Halla bis zur Grenze an der demilitarisierten Zone (DMZ) im Norden marschieren. Wir werden von den Diamantenbergen zur DMZ kommen und zum Tag des Waffenstillstands des Koreakrieges, am 27.Juli, in dem einstigen Verhandlungsort eintreffen. Dort will die südkoreanische Studentin Rim Suk Jung, die unseren Marsch anführt, in ihre Heimat zurückkehren. Die 22jährige Französischstudentin hat Seoul Ende Juni als Vertreterin des südkoreanischen Studentenverbandes Mingahyup verlassen, um in Pjöngjang im Juli an den 13.Weltjugendfestspielen teilzunehmen. Über den Umweg Bundesrepublik und Ost-Berlin kam sie in den Norden. Denn seit Ende des Koreakrieges im Jahre 1953 hatten die beiden Teilstaaten keinen Kontakt mehr miteinander. Es gibt keine Briefe, bis auf eine Ausnahme gab es keinen Familienaustausch mehr. Verhandlungen werden in steter Regelmäßigkeit entweder vom Norden oder Süden immer wieder abgebrochen. Doch noch immer sollen in beiden Staaten zehn Millionen Menschen von ihren Familienmitgliedern getrennt sein. Das Nationale Sicherheitsgesetz - auch Antikommunistengesetz genannt - stellt in Südkorea den Kontakt mit dem Norden unter Strafe.

Unser Flugzeug, eine Illjushin Tu 134 der nordkoreanischen Fluggesellschaft Choson Minhang, landet zwischen Reisfeldern in einer Hügellandschaft. Über dem Haupteingang des Flughafengebäudes hängt ein riesiges Ölporträt eines älteren Herren. Kim Il Sung (77): Staatspräsident, Parteivorsitzender der nordkoreanischen kommunistischen Arbeiterpartei, Revolutionsführer, Gründer der Juche -Ideologie und damit Staatsphilosoph; genannt der „verehrte Führer“, der „verehrte Marschall“ und nicht zu vergessen der Vater des „geliebten Leiters“ Kim Jong Il - sein designierter Nachfolger. Beide Herren werden uns noch öfter begegnen.

Wir sind eine wichtige Delegation der Guten. Wiedervereinigung ist das oberste Ziel des Staates. Ein Delegationsleiter, ein Dolmetscher und ein Lokalreporter empfangen uns. Die Namen der Fremden werden notiert. Denn immerhin haben wir einen türkischen Sprecher der Alternativen Liste, Vertreter von verschiedenen Solidaritätsgruppen dabei. Zu Hause kennt sie keiner, doch hier haben die Namen am nächsten Morgen in der Zeitung große Bedeutung.

Aufbau aus eigener Kraft

Der riesige neue Reisebus, der auf die siebenköpfige Gruppe der Europäer wartet, trägt an der Längsseite ein Spruchband. „Internationaler Friedensmarsch“ und „Korea ist eins“ heißt es da in englisch und koreanisch. Zuerst fahren wir auf einer Autobahn durch gepflegte Reisfelder, dann über achtsprurige Straßen vorbei an neu erbauten Hochhaussiedlungen. Fast eine Spur von Hongkong. Doch noch wohnt niemand drin. „Hier wurden 10.000 Ausländer bei den Festspielen untergebracht“, erzählt der Dolmetscher Li Cheng -Si nicht ohne Stolz. „Jetzt werden sie auf die Bedürfnisse der Koreaner umgebaut.“ Unweit entstanden sechs riesige Stadien und Sporthallen. Umgerechnet vier Milliarden US -Dollar soll das bankrotte Land dafür aufgebracht haben. Alles aus eigener Kraft und ohne ausländische Hilfe. Auf einem Hügel dahinter thront das Rayanggang-Hotel. Erst vor wenigen Wochen öffnete es seine Tore. Das Drehrestaurant auf dem Dach gibt einen Blick auf die Wolkenkratzerkulisse von Pjöngjang frei. Die Hotelhalle ist ganz in weißem Marmor gehalten. Sichtlich sind die sieben Europäer sprachlos.

Auf der Weltkarte im Foyer ist Korea ungeteilt und ganz in Rot gehalten. Pjöngjang blinkt als einziger Stern auf der Halbinsel. Das Antlitz des „verehrten Führers“ hängt über dem Buchladen. Daneben eine seiner Lebensweisheiten: „Das Buch ist ein stiller Lehrer und ein Kamerad im Leben. Junge Leute sollten immer Bücher bei sich tragen und eifrig verschiedene Bücher lesen und lesen.“ Viel Auswahl gibt es dazu allerdings nicht. Im Hotelbuchladen sind fast nur Werke des „verehrten Führers“ Kim Il Sung und seines Sohnes zu erstehen. „Leider sind sie einen Tag zu spät gekommen“, öffnet ein Vertreter des Organisationskomitees. Die Karawane der 400 ausländischen Friedensmarschierer sei schon am Vortag mit einem Sonderflugzeug zu den Diamantenbergen aufgebrochen. Unsere Bitte, nachreisen zu wollen, findet kein Gehör. Die Straßen seien zu schlecht. Doch am Abend kommt die Wende. „Der verehrte Führer hat sich persönlich für Sie eingesetzt“, erklärt der Leiter des Organisationskomitees. Es ist quasi unsere erste Begegnung mit ihm persönlich. Am nächsten Morgen fliegen wir in einer Sondermaschine zum Berg Päktu, den Diamantenbergen. Die 70 Sitze der Maschine sind fast unbesetzt. „Des Führers Wille ist Befehl“, erzählt später ein Auslandskoreaner.

Ein älterer Herr empfängt uns an der Flugpiste in den Bergen und verleiht uns die Insignien der Friedensmarschierer, die uns die nächsten Tage ständig begleiten werden. Es ist eine blaue Seidenscherpe mit der Aufschrift „International Peacemarch“ und „Korea is one“. Dazu noch ein Strohhut mit blauem Rand. Später soll es noch ein bräunliches Einheitshemd dazu geben. Im Nieselregen treffen wir so ausstaffiert nach wenigen Kilometern Busfahrt auf den internationalen Troß der Friedensmarschierer.

Wie in der

Kulturrevolution

In Zweierreihen laufen sie den langen Kiesweg zu einem riesigen Monument aus Marmor und Beton hinauf. „Viele Nationen sind vertreten“, erzählt einer der Initiatoren des Marschs. „Amerika, Liberia, Luxemburg, Kanada, die PLO, Philippinen, sogar China.“ Zumeist sind es Vertreter von linken Parteien, Soligruppen und kommunistische Parteien, die dem letzen Stalinisten die Ehre erweisen. Doch niemand ist aus Osteuropa gekommen. „Wir brauchen keine Reform“, ist die Standardantwort auf die Frage nach Reform und Glasnost in Nordkorea. „Unser Führer hat alles bestens gelöst.“

Links und rechts wächst Heidekraut. Junge Fichten und Birken zeugen von den Massenkampagnen, mit denen in den 60er Jahren der Wald wieder aufgeforstet wurde. Nach Antijapanischem Kampf (1926-1945) und Koreakrieg war die Natur hier oben zerstört. Eine kleine Soldatin in strenger brauner Uniform führt den Zug gemessenen Schrittes an. Um die Hüfte trägt sie eine breite schwarze Koppel, an den Füßen hohe schwarze Stiefel. Die Lippen sind rot gemalt, das Gesicht stark gepudert. Sie scheint einer chinesischen kulturrevolutionären Oper zu Zeiten Mao Zedongs entsprungen. Am Monument hält sie inne, fährt mit erhobener Hand über die leicht hügelige Landschaft und erzählt mit pathetischer und ernster Stimme: „Hier hat der verehrte Führer eine entscheidende Schlacht gegen die Japaner geschlagen.“ Vor der ernsten Soldatin steht unter einem Glassarg ein Maschinengewehr aus den 30er Jahren auf einer umfriedeteten Rasenfläche. Denn diese revolutionäre Reliquie stammt aus der Armee des „verehrten Führers“. Ein Ketzer aus dem Ausland, Alfred Pfabigan, hat in seinem Buch „Schlaflos in Pjöngjang“ behauptet, zähle man alle Schlachten zusammen, an denen Kim Il Sung teilgenommen haben soll, so wäre er heute noch am kämpfen.

Nichts bleibt

dem Zufall überlassen

Es wird nun zum Sammeln gerufen. In der ersten Reihe läuft Rim Suk Jung, die Studentin aus dem Süden, geleitet von einem Lautsprecherwagen. „Korea is one“, tönt es von dort. „Choson Hanada.“ Der internationale Chor brüllt nach.

Wir laufen durch den Wald. Es regnet. Nach zwei Stunden müssen wir wieder aufsitzen. Dann geht es zur nächsten Andachtsstätte. Dort hat der Führer während des Krieges Lager gehalten. Die einfachen Hütten sind fein restauriert. Auf den Strohdächern wächst kein Moos, und auf den angelegten Wegen ist jeder Grashalm gezupft. Sogar die Stelle, an der die Frau des Führers in den Tagen des Kampfes Wasser holte, ist jetzt durch Stufen markiert, die zu dem mit Steinen eingefaßten Bach hinunterführen. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Die Straßen sind neu asphaltiert. Eine neuerbaute Brücke trägt das Datum: 11.Mai 1989. Alles ist gut vorbereitet. Der Apparat führt Regie, die Westler marschieren.

Als wir durch das nächste Dorf kommen, bleiben die Busse am Ortseingang stehen. Wir steigen aus, Seidenscherpe umlegen, Strohhut auf und Fahne in die Hand. Am Straßenrand warten die Dorfbewohner bereits. Sie haben ihre Sonntagskleider an, Blumen in der Hand und schreien frenetisch: „Choson hanada (Korea ist eins)“. Seit Jahren ist es Hauptziel der nordkoreanischen Politik - die Wiedervereinigung mit dem Süden. Doch als sich die Abgesandten beider Länder im vorolympischen Trubel im Sommer 1988 in Panmunjong trafen, konnten sie sich noch nicht einmal die Hände reichen. Der Tisch, an dem die Gesprächspartner saßen, war zu groß.

„Die meisten Geschichten, die in der westlichen Presse über Nordkorea verbreitet werden, sind eine Lüge“, sagt Kim Chun -Hoo. Der 45jährige Lehrer begleitet den Marsch. In welcher Funktion, das sagt er nicht. Immerhin gibt er den vier westlichen Reportern aus den Philippinen, den USA und Berlin, die das Spektakel begleiten, ein Interview. „Die Menschenrechte“, sagt er, „werden bei uns mehr geachtet als bei ihnen zu Hause.“ Immerhin gäbe es keine Arbeitslosen, die Gesundheitsversorgung und Erziehung sei kostenlos. Der Kollege aus den Philippinen nickt zustimmend. Den Vorwurf der US-amerikanischen Menschenrechtsgruppe „Asia Watch“, daß Kim Il Sung seit 1958 im Land mehr als 50 Schichten und drei Klassen eingeführt habe, sei jedoch „eine unverschämte Lüge“. Nach der anerkannten Menschenrechtsgruppe werden die Bewohner des kommunistischen Landes nach ihrer Verfügbarkeit und Eignung für das System sowie Zuverlässigkeit und Familienhintergrund beurteilt. Zur Spitzenklasse zählten danach vorwiegend die Funktionäre der Koreanischen Arbeiterpartei und Bewohner der Hauptstadt. Der „feindlichen Klasse“ gehörten demnach Oppositionelle, Familienmitglieder von in den Süden Geflüchteten und ehemalige Kapitalisten und Großgrundbesitzer an. Sie seien zu schwerer Arbeit bei geringen Lebensmittelrationen verpflichtet. Die vier Millionen Mitglieder dieses vermeintlichen Bodensatzes der nordkoreanischen Gesellschaft, so behauptet „Asia Watch“, „leben in Regionen, zu denen Ausländer keinen Zugang haben“. Es gibt aber wenig Beweise für diese Behauptungen. Auch amnesty international kann wenig vorweisen. Zu perfekt hatte sich das Land jahrzehntelang isoliert .„Nirgendwo ist die Gehirnwäsche so perfekt“, sagt ein Ausländer in Pjöngjang. „Kein Land gleicht Orwells Vision von 1984 so sehr.“ Unsere Gesprächspartner leugnen das.

„Beste Gehirnwäsche

der Welt“

„Schon die Behauptung, es gäbe bei uns Gefängnisse“, sagt unser Gesprächspartner „ist absurd. Es gibt Erziehungsanstalten für Leute, die Fehler gemacht haben. Aber Verbrecher haben wir nicht.“ Das Volk sei mit dem selbstaufgebauten Sozialismus und dem „verehrten Führer“ derart zufrieden, „daß wir uns alle nicht sehr für Geld interessieren“. Was die Leute freilich besonders glücklich mache, sei, „wenn sie sich einen Fernseher, Kühlschränke, Kleider oder neue Kücheneinrichtung kaufen können“. Da alles vorhanden sei, „gibt es keinen Grund für eine Reform“, sagt der Lehrer. „Unser Führer hat hier das Paradies für Arbeiter aufgebaut. Er wird von den Leuten geliebt und geehrt. Der geliebte Führer kennt seine Vorstellungen am besten, deswegen werden wir auch in Zukunft keine Probleme haben.“

Oft gleichen sich die Antworten meiner Gesprächspartner in Nordkorea bis aufs Wort. Der Wiener Philosoph Alfred Pfabigan macht dafür den „Text“ verantwortlich. Das ist die politische Schulung in der Staatsideologie Juche (Selbstvertrauen), der sich jeder Nordkoreaner vor und nach der Arbeit oder am Samstagnachmittag unterziehen muß. „Die vielfältigen unvorhersehbaren Möglichkeiten des „Erlebens“ scheinen mir verdrängt durch die scheinbar begrenzten, die man bei der Wahrnehmung des Textes hat - Reise als eine Art Lektüre“, schreibt er über seine Einweisung in die alles beherrschende Landesideologie. Der „Text“ legitimiert sich ähnlich wie der Führer: er behauptet von sich, ein Repräsentant zu sein, ein Ausdrucksmittel des Volkswillens. In Pjöngjang faßt es ein Ausländer einfacher zusammen. Die Macht der koreanischen Regierung beruhe auf „Indoktrination, Angst und ständigem Wechsel des Ortes und der Arbeitsstelle.“ Das System stütze sich auf „acht Stunden Arbeit, acht Stunden politischen Unterricht und acht Stunden Schlaf“. Kim Il Sungs Sohn, der „geliebte Leiter“ Kim Jong Il, führt alle Amtsgeschäfffte der Partei. Vor wenigen Jahren gab er die Losung aus: „Lest 10.000 Seiten im Jahr.“ Immerhin fast 30 Seiten am Tag.

Niemand kann

die Ikone kaufen

Der Text und die Führer sind überall präsent. Jeder Nordkoreaner trägt die „Ehrennadel“ mit dem Antlitz Kim II Sungs über dem Herz. Es gibt Dutzende von Ausführungen. Mal mit Goldrand, dann als Zentrum der nordkoreanischen Fahne oder mit schimmerndem blauen Hintergrund. Doch kaufen kann den Anstecker niemand. „Sie wird nur verliehen“, versichern mir meine Gesprächspartner. Genauso ist es mit dem Konterfei des „verehrten Führers“ und des „geliebten Leiters“. Es hängt zwar in jeder Privatwohnung. Auch in jedem U-Bahn -Abteil der Stadt Pjöngjang, in Hotels und öffentlichen Gebäuden hängt meist ein riesiges Ölgemälde mit einer Szene aus dem Leben des „verehrten Führers“. Doch niemand kann die Ikone kaufen. „Wenn wir eine Familie gründen oder eine Wohnung bekommen, können wir die Bilder beantragen“, erzählt ein Dolmetscher. Das Bild des „verehrten Führers“ ist meist viereckig, der „geliebte Leiter“ jedoch in ein eifürmiges Oval gefaßt. Beide Bilderrahmen sind nach vorne geneigt, sodaß sie in schöner Eintracht auf die Betrachter hernieder schauen.

Für den Abend ist internationale Solidarität vorgesehen. Erst ziehen bis in den frühen Morgen die Delegationen der Länder und Kontinente auf die Bühne, fordern den „Abzug der amerikanischen Streitkräfte aus dem faschistischen Südkorea“, ferner Menschenrechte, doch nur im Süden der koreanischen Halbinsel.

Unterbrochen wird das Ritual des Abends von Kulturbeiträgen. Ein kleines Mädchen tritt auf die Bühnen. Sie ist drei Jahre alt und kann schon Gedichte schreiben. Schleife im Haar, mit Rouge auf den Wangen und im Sonntagskostümchen trägt sie vor: „Es ist eine Schwalbe aus dem Süden gekommen. Sie kann nicht nach Hause zurück. Der Adler läßt sie nicht ziehen. Doch ich will ihr eine Wolke sein, die sie umhüllt.“ Der Apparat liebt das Pathos, die übermenschliche Leistung und die Übermenschen schlechthin. Schließlich wird er von einem geleitet, der alles weiß und alles kann. Es wird immer gekämpft, vollbracht, erfüllt, gesiegt - das Vokabular des Stalinismus. In diesem Land gibt es keine Fehler und Probleme.

Sterben für die

Wiedervereinigung

Es ist der Abend von Rim Suk Jung. Mit dem Marsch soll die Oppositionelle aus Seoul schließlich wieder nach Hause gebracht werden. Zwar hat seit Ende des Koreakrieges im Jahre 1953 noch nie jemand die Waffenstillstandslinie überschritten, ohne daß es dort gleich zu Mord und Totschlag kam, doch diesmal ist es vielen der Koreaner aus den USA offenbar ernst. Sie haben als „Vorbereitungskomitee für den Friedensmarsch“ die Aktion schon seit Monaten geplant. Die hiesige Regierung stellte nur Hotels und Transporte, Verpflegung und Logistik zur Verfügung.

„Ich marschiere mit Rim Suk Jung bis Seoul“, sagt ein Mittdreißiger. „Und wenn ich dafür sterbe.“ Der Vater von zwei Kindern ist Angestellter in New York. Er hat vor 15 Jahren Seoul verlassen und lebt seitdem in den Vereinigten Staaten, dem Land, dessen Soldaten ihn an dem unerlaubten Grenzübertritt hindern werden. Denn nicht Südkoreaner, sondern US-Truppen unter dem Oberbefehl der UNO stehen an der demilitarisierten Zone in Panmunjong der nordkoreanischen Armee gegenüber.

Nordkorea hält der amerikanische Koreaner „für das einzig sozialistische Land auf Erden“. Der relative Wohlstand hier, die „großzügige Architektur in Pjöngjang, die Aufbauleistung nach dem Krieg und die hingebungsvolle Liebe zum Führer“ haben ihn überzeugt. „Kim Il Sung ist ein weiser Mann“, meint er am nächsten Morgen im Flugzeug zurück nach Pjöngjang. „Und beliebt ist er wie kein anderer beim koreanischen volk, denn er ist der einzige, der sich für die koreanische Wiedervereinigung einsetzt. Und das ist der Herzenswunsch aller Koreaner.“ Bei der Landung sieht es ganz danach aus.

Tausende sind zum Flughafen gekommen. Die Frauen tragen die Nationaltracht des Landes, halten Blumen in den Händen. Männer haben den Sonntagsanzug übergestreift. Als Rim Suk Jung auf die Gangway tritt, droht die Menge das Rollfeld zu stürmen. „Es ist unvorstellbar“, sagt ein amerikanischer Pfarrer, der zum erstenmal in Korea ist. „Wie spontan die Leute für ihre Wiedervereinigung eintreten.“ In den Feldern, auf Hausdächern, an Fenstern stehen jetzt Leute, die den Fremden zuwinken. Doch das ist nur der Anfang.

Viel Spaß für „AL-Sprecher“

Am Stadtrand von Pjöngjang ist die Menschenmenge auf Hunderttausende angewachsen. Vor der internationalen Karawane fährt ein Lautsprecherwagen. Auf dem Dach stehen zwei Sprecher, die sich beim Skandieren von Parolen abwechseln. Tags zuvor hatten uns die Veranstalter noch vorgeschlagen, wen wir in das Zentralkomitee für den Marsch wählen sollten. Als unser Vertreter wird nun der Kurde Ismail Kosan, Mitglied der Alternativen Liste Berlin, von vier kräftigen jungen Männern auf den Schultern durch die Straßen der nordkoreanischen Hauptstadt getragen. Es scheint dem „Sprecher der Alternativen Liste Berlin“ - so jedenfalls die Teilnehmerliste - Spaß zu machen. Frauen reichen Erfrischungsgetränke, Männer schwingen die nordkoreanische Fahne. Vorbei geht es an den Monumentalgebäuden Pjöngjangs. Im Hintergrund grüßt die 30 Meter hohe Statue des „verehrten Führers“. Sie wurde ihm zu seinem 60.Geburtstag vom Volk geschenkt. Wäre es jetzt Abend, könnten wir sogar die Juche -Flamme sehen. Sie wurde zum 70.Geburtstag des Führers auf einem hundert Meter hohen Turm errichtet. Und am Stadtrand weht die rote Fahne auf dem Rohbau des Ryugyong-Hotel. Es zählt 105 Stockwerke und überragt damit das 104-stöckige Daehan-Gebäude in Seoul - vormals das höchste in Ostasien. Das Hotel ist ein Geschenk des koreanischen Volkes an seinen Führer: zum 80.Geburtstag.

Auch strömender Regen treibt jetzt keinen von den Straßen. „Die Leute wurden von ihren Arbeitseinheiten abkommandiert“, berichtet zwar am nächsten Tag ein ausländischer Geschäftsmann mit langer Nordkorea-Erfahrung. „Am liebsten diejenigen, die nicht in der Produktion gebraucht werden.“ Doch sicherlich ist das wieder eines der typischen Ausländervorurteile. Wir spüren schließlich das Beben der Massen. Nun geht es durch den nordkoreanischen Triumphbogen aus Marmor, der gut 40 Meter hoch an die Toten des Befreiungskrieges (1926 bis 1945) gegen die Japaner erinnert. Und schließlich hinein in das proppenvolle Kim-Il -Sung-Stadion. Etwa 150.000 Menschen warten hier. Die Ränge sind voll mit Menschen. Selbst auf dem Rasen stehen sie dicht gedrängt. Eine Ehrenrunde der Marschierer für den Frieden in Korea wird fast zum Spießrutenlauf. Konfetti prasselt nieder und dann geht es hinauf auf die Ehrentribüne. Welch ein Tag für das koreanische Volk. Welch eine Show für Rim Suk Jung. Souverän steht sie am Mikrophon. Gegenüber klappen gut 20.000 Schulkinder mit unglaublicher Präzision Tafeln zu Parolen und Bildern auf: zuerst Atomraketen, dann zieht eine Taube darüber, und die Raketen zerfallen zu Schrott. Monatelang wurde das nächtelang geübt.

Die Studentin aus Seoul in ihrem roten T-Shirt stemmt die Arme in die Hüften und brüllt: „Korea ist eins“. In einem Land, das bisher nur den Personenkult für zwei Führer kannte, ist sie zu einem Superstar der Politpropaganda aufgestiegen. Ob das der Sinn ihrer Reise war?

Einsam hinter

einer Glaswand

Als die Massen nach Hause strömen, steht das Mädchen erschöpft auf der Fensterbank des Stadions. Wie im Rausch winkt sie hinter der blauen Glaswand mit einem Blumenstrauß. Ein Bild, das vom staatlichen nordkoreanischen Fernsehen an diesem Abend immer wieder ausgestrahlt wird.

Das geht nicht spurlos an der hübschen jungen Frau mit dem Lockenkopf vorbei. Als sie spät nachts in ihr Nobeldomizil, das Koryo-Hotel zurückkehrt, wird sie von zwei nordkoreanischen Offiziellen gestützt. Einen alten Frend, der ihr in der Lobby fassungslos die Hand hält, erkennt sich nicht. „Die steht doch unter Drogen“, mutmaßen Ausländer, die sie seit Wochen hier beobachteten. „Am Anfang war ihr Gesicht nicht so aufgequollen, die Bewegungen nicht so hektisch.“ Eine Europäerin meint: „Drei Wochen hat sie hier immer im Hotel gegessen, immer bekam sie einen Rieseneisbecher. Doch sie war nie allein. Stets wurde sie von zwei Offiziellen begleitet.“

Die Friedensmarschierer wohnen weit außerhalb der Stadt. Sie haben ein anderes Problem. Die amerikanischen und europäischen Gruppen wollen ihre Journalisten loswerden. Vertretern von Soli-Initiativen, der Berliner AL, der Kommunistischen Partei der USA und Exilkoreanern gehen die bohrenden Fragen ihrer mitreisenden Journalisten auf die Nerven. Das Marschieren nach dem Fahrplan des „geliebten Führers“ scheint mit der Arbeitsauffassung von westlichen Journalisten zu kollidieren. Zusammen mit einer amerikanischen Kollegin wird uns von unseren Delegationen „unkooperatives Verhalten“ vorgeworfen. Wir hatten uns beide geweigert, für das Regime politisch Stellung zu beziehen. Es kommt zum Ausschluß vom Friedensmarsch. Sprachlos bleibe ich mit einer amerikanischen Kollegin im Pjöngjang zurück.

Schwieriger Fall

eines Delegationslosen

Die koreanischen Begleiter sind es gleichfalls. Zwei Tage müssen sie mit ihren Vorgesetzten beraten. „Sie gehören keiner Delegation mehr an“, sagt ein Offizieller. „Das ist schwierig bei uns.“ Dann fassen sie einen salomonischen Beschluß, wie sie später erzählen: „Yankee go home, aber der Deutsche darf bleiben.“

Kostenlos wird ein Fahrer, ein Dolmetscher und einer der raren roten Mercedes 190 zur verfügung gestellt, die auf Nordkoreas Straßen fahren. „Du bist ein schwerer Fall“, gesteht mein Dolmetscher. „Immer bist du die letzten Tage allein mit dem Taxi in die Stadt gefahren, wurde mir berichtet.“ Rührend kommt er meinen Wünschen entgegen. Ich fahre in Landgenossenschaften, Fabriken, Universitäten. „Wir wollen, daß du gut über unser Land schreibst“, sagt der Fahrer. „Ihr Ausländer versteht nicht die Liebe zu unserem Führer. Aber er hat uns von den Japanern befreit, den Sozialismus geschaffen. Ohne ihn wären wir nichts.“ Der Dolmetscher ist ein belesener Mann und wie er sagt, „überzeugter Kim Il Sungist“. Alles „weiß unser Führer über die Volkswirtschaft unseres Landes“. Nur einen Besuch in einem Gefängnis schlägt mein Begleiter mir nach Rücksprache mit seinem Vorgesetzten ab.

Die Friedenskarawane sehe ich jetzt aus der gleichen Perspektive wie die nordkoreanischen Fernsehzuscheauer. Immer wieder werden die gleichen Szenen von Rim Suk Jung und den Ausländern zu abendfüllenden Programmen zusammengeschnitten. „In den Städten und Dörfern im Süden konnten selbst die Behörden der Begeisterung der Bevölkerung nicht mehr Herr werden“, erzählen Friedensmarschierer nach ihrer Rückkehr. „Im Städtchen Sariwon mußten Familien sogar unter Hausarrest gestellt werden, nur damit sie nicht auf die Straße gingen.“ Dennoch werden die Ausländer fast totgequetscht. Es kommt zu einer Massenhysterie. Menschen stürzen auf die Ausländer, trampeln übereinander und können nur von der Polizei zurückgehalten werden.

„Dennoch war der Kontakt zur Bevölkerung nicht möglich“, berichtet ein Teilnehmer. Sein Versuch hatte zur Konsequenz, daß ihm drei Tage ein Unbekannter auf Schritt und Tritt folgte. Andere Ausländer erzählen: „Immer wieder wurden wir gefragt, was ist in Peking auf dem Tiananmen-Platz wirklich passiert.“ Denn ein Radio hat in Nordkorea niemand zu Hause. Jede Familie ist nur an den „Drahtfunk“ der Regierung angeschlossen, der alle Haushalte erreicht und selbst Bauern und Holzfäller bei der Arbeit beschallt.

Am 27.Juli, dem Tag des Waffenstillstands, trifft die Studentenvertreterin aus Seoul in Panmunjong ein. Doch wie zu erwarten war, haben die südkoreanischen Behörden den Grenzübertritt verboten. Eine handvoll nordkoreanischer Militärs steht nun zwischen den Baracken, in denen 1953 der Waffenstillstand zwischen den feindlichen Brüdern unterzeichnet wurde, und verhindern den Weitermarsch der etwa 400 Ausländer, die noch mit etwa 100 nordkoreanischen Studenten und Exilkoreanern aus Japan verstärkt wurden. Wieder steht Rim Suk Jung vorm Mikrophon, das Gesicht nach Südkorea gewendet. „Mutter, Vater, Studenten in Seoul“, brüllt sie. „Nur weinge Kilometer trennen uns, ich darf aber nicht nach Hause.“ Zum ersten Mal tut sie mir leid. Auf der anderen Seite der Grenze haben sich GIs mit Fotoapparaten postiert.

Einer der Demonstranten versucht Rim Suk Jung eine nordkoreanische Fahne um die Brust zu hängen. Sie reißt sie runter. Am Vortag wurde ihr schon eine „Ehrennadel“ von Kim Il Sung angeheftet. Doch Rim hat die Auszeichnung dezent abgenommen. Mit 71 Sympathisanten tritt das Maädchen nun in den Hungerstreik. Zuerst heißt es „befristet“, dann meldet das nordkoreanische Fernsehen „bis zum Tod“. Die meisten Ausländer können das nicht überprüfen, sie werden zurück nach Pjöngjang gebracht. Nach fünf Tagen berichtet die amtliche Nachrichtenagentur: „Rim Suk Jung ist ins Koma gefallen.“ Einen Tag später wird das Ende ihrer Fastenaktion gemeldet.

„Es war sinnlos, wir werden mißbraucht“, sagt ein Ausländer zurück im Pjöngjanger Hotel und zeigt auf das Bildnis des „geliebten Führers“. „Ich kann ihn nicht mehr sehen“, flüstert er. Selbst Westler haben Angst vor den Wanzen, die in den Möbeln der Hotellobby versteckt sein sollen.

Mein Dolmetscher befürchtet, daß ich etwas „nicht Gutes“ schreibe, nachdem ich schon meine Telexe nicht vorlegen wollte. Selbst wenn Journalisten „den ganzen Bericht gut schreiben, empfindet es unser Volk als gegen uns gerichtet, wenn auch nur einmal etwas schlechtes über unseren Führer drin steht“, belehrt er mich noch einmal am Flughafen. „Ich weiß, ihr Ausländer meint es nicht böse, aber ihr versteht unsere Liebe zu unserem Führer nicht“, klagt er. „Doch, ich verstehe“, halte ich gegen: „Wir hatten ja auch mal einen.“