Das "Schanddiktat von Versailles"

■ Im MAxi-GB, dem großen Supermarkt am Rande Eupens, herrscht an bundesdeutschen Feiertagen noch mehr Gedränge als sonst. Ardenner Käse und belgische Biere, Cigarettes und Baguettes harren auf die...

Dietmar Mirkes DAS „SCHANDDIKTAT

VON VERSAILLES“

Im Maxi-GB, dem großen Supermarkt am Rande Eupens, herrscht an bundesdeutschen Feiertagen noch mehr Gedränge als sonst. Ardenner Käse und belgische Biere, Cigarettes und Baguettes harren auf die Kunden von drüben, denn deutsche Feiertage in Ostbelgien sind Tage der deutschen Währungseinheit.

An allen deutschen Festen, die hier keine sind, schwillt der Strom der Konsumenten über das übliche Ausmaß an. Auch Möbel aus St.Vith, Antiquitäten aus alten Bauernhäusern und Fritten in handgewickelten Tüten erfreuen sich beständiger Beliebtheit. Die Tatsache, daß hier deutsch gesprochen wird und daß die DM akzeptiert wird, läßt viele Bundesbürger vergessen, daß sie im Ausland sind - im Gebiet der deutschsprachigen Minderheit in Belgiens Ostkantonen, gleich hinter der Grenze bei Aachen.

Genau 70 Jahre ist es her, daß diese Gegend belgisch wurde: Am 28.Juni 1919 besiegelte der Versailler Vertrag die Abtretung der beiden Kreise Eupen und Malmedy, die vormals zur preußischen Rheinprovinz gehört hatten, an Belgien. Um dem Anspruch des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“, das US-Präsident Wilson im Januar 1918 verkündet hatte, zumindest formal Genüge zu tun, garnierten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs diese Gebietsabtretung mit einer „Volksabstimmung“. Im ursprünglichen Vertragsentwurf noch „frei und geheim“, wurde sie letztendlich zu einer unverbindlichen Unterschriftensammlung zurechtgestutzt.

Das Ergebnis entsprach den Rahmenbedingungen: Von Januar bis Juni 1920 trugen sich nur 271 von 33.726 Wahlberechtigten namentlich in die Listen ein, also weniger als 1 Prozent, obwohl die Sympathie für die Weimarer Republik insbesondere in der organisierten Arbeiterschaft groß war. Im April 1920 hatte die belgische Militärverwaltung eine prodeutsche Protestbewegung durch die bewährten Mittel Verhaftung, Ausweisung, Teilzugeständnisse, Agents provocateurs und Belagerungszustand gespalten und besiegt. So trug sich halt aus Angst vor späterer Repression oder Ausweisung kaum jemand in die Listen ein.

Der genaue Grenzverlauf gewährte über die beiden Kreise hinaus den Belgiern die Kontrolle über die strategisch wichtigen Verkehrswege, vor allem über die Vennbahn. Die Belgier hatten nicht vergessen, daß die Reichswehr dieses Bahnsystem in den ersten Augustwochen 1914 zum Überfall auf ihr Land benutzt hatte.

Die Belgier selbst nennen diese Abstimmung heute eine Farce. Die Entscheidung, dieses Gebiet aus wirtschaftlichen und strategischen Gründen zu annektieren, war eh gefallen und ist aus der Sicht des überfallenen Nachbarstaates auch verständlich. Die Leute um Eupen, Malmedy und St.Vith mußten de facto die Zeche zahlen für die Angriffspläne des deutschen Generalstabs.

„Eupen-Malmedy-St.Vith“, ein durch das „Schanddiktat von Versailles“ zu „Unrecht entrissenes Stück deutscher Heimaterde“, ist als Sediment vergangener Nazipropaganda noch bei manchen älteren Bundesbürgern im Gedächtnis haften geblieben. In Ostbelgien selbst zieht heute nur noch eine verschwindende Minderheit revisionistischer Betonköpfe aus der „petite farce belge“ vor 70 Jahren den aktuellen Schluß „Heim ins Reich BRD“.

Wenn es heute andererseits Leute mit Vorbehalten gegen die Deutschen gibt, so hängt dies - neben den Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg - mit handfesten ökonomischen und sozialen Umständen zusammen: Der Norden der Ostkantone ist für Aachener stadtnahes Umland. Viele liquide Deutsche kaufen sich im Grenzgebiet Häuser und Grundstücke, treten als ökonomisch Stärkere auf und stellen mittlerweile in einigen Grenzdörfern 30 bis 50 Prozent der Einwohner. Viele Deutsche setzen auch als selbstverständlich voraus, daß man die Mark akzeptiert, wobei sie selbst in ihrem Geschäft jenseits der Grenze weder den belgischen Franken annehmen noch ein Wort Französisch sprechen können.

Neben den Vorteilen, naheliegend und deutschsprachig zu sein, brauchen die belgischen Ostkantone ihre natürlichen Reize nicht zu verbergen. Im Norden, gleich hinter Aachen, erstreckt sich das flache „Butterländchen“: schwarzweiß -gescheckte Kühe, verstreute Bauernhöfe aus weißem Kalkstein in einer knallgrünen parkartigen Wiesen- und Heckenlandschaft - mit seinen geteerten verkehrsarmen Nebenwegen ein noch unentdecktes Radwanderland.

Am Rande des Butterländchens und am Fuße des Hohen Venns liegt Eupen, mit seinen rund 17.000 Einwohnern der Hauptort der Ostkantone. Hier sitzt auch - „Kaperberg“ heißt die Straße - der „Rat der Deutschsprachigen Gemeinschaft“ (RDG), das Regionalparlament mit 25 direkt gewählten Abgeordneten. Nach dem - zumindest oberflächlichen - Verheilen der Wunden des Zweiten Weltkriegs fielen den 66.000 deutschsprachigen Ostbelgiern seit den 60er Jahren häppchenweise kulturelle, soziale und politische Freiräume zu: 1963 wurde Deutsch wieder als gleichberechtigte Amts- und Unterrichtssprache eingeführt und 1973 der „Rat der deutschen Kulturgemeinschaft“ eingesetzt, aus dem 1984 eben dieser „Rat der deutschsprachigen Gemeinschaft“ hervorging. Der RDG ist befugt, in den Bereichen Kultur, Sport, Tourismus, Medien, Erwachsenen- und Berufsausbildung und Teilen des Sozialwesens Dekrete für die deutschsprachige Region zu erlassen und verfügt über ein Budget von umgerechnet rund 50 Millionen DM. Die im Rat vertretenen Parteien ernennen nach Koalitionsvereinbarungen drei Minister, die der „Exekutive der Deutschsprachigen Gemeinschaft“ mit Sitz an der „Klötzerbahn“ in Eupen vorstehen.

Das ostbelgische Parteienspektrum entspricht im wesentlichen dem üblichen mitteleuropäischen Muster. Derzeit sitzt eine christlich-liberale Koalition am Ruder, und Ecolo, das grüne Pflänzchen, ziert einen Sitz. Ein Minister auf 22.000 Einwohner - wer kann da mithalten? Doch dieses phantastische „Betreuungsverhältnis“, das Bürgernähe, Transparenz und Selbstbestimmung versprechen könnte, entpuppt sich in einer Gegend, in der es keine zwei Leute gibt, die nicht mindestens einen gemeinsamen Bekannten haben, als ein Gerangel und Gekungel um Posten und Subsidien. Die enge personelle Verflechtung zwischen Politik und Regionalpresse tut ihr übriges, einen dezenten Grauschleier über die veröffentlichte Meinung zu werfen.

Während Ostbelgien fest in schwarzer Hand ist, wehen im Hohen Venn die roten Fahnen - besonders im Frühjahr bei trockenem Wetter. Dann nämlich ist Brandgefahr. Das hohe Venn ist ein Hochmoorgebiet mit meterdicken Torfschichten, das sich einsam und weit auf einem Höhenrücken quer durch die Ostkantone zieht. Wenn besagte Fahnen hoch sind, darf niemand die naturgeschützen Moorflächen betreten.

Südlich des Vennrückens schließt sich die belgische Eifel an - eine Mittelgebirgslandschaft ähnlich der deutschen Eifel; hier spricht man Eifeler Platt, ist sehr katholisch und hat mit den gleichen Strukturproblemen zu kämpfen wie in anderen ländlichen Regionen: Rückgang der Landwirtschaft, Abwanderung der Jugendlichen, ökonomische und kulturelle Auszehrung der kleinen Dörfer. Hier im „Land zwischen Venn und Schneifel“ ist die Hochburg der PDB, der „Partei der deutschsprachigen Belgier“. Sie stellt eine Besonderheit in der ostbelgischen Parteienlandschaft dar, weiß rund 20 Prozent der Wähler hinter sich und stellt südlich des Venns in einigen Orten den Bürgermeister. Schwer einzuordnen in das traditionelle Links-Rechts-Schema, beansprucht die PDB, der wahre Hüter der Minderheitsinteressen zu sein und wirft den anderen Parteien vor, sich den nationalen Parteiinteressen unterzuordnen, ohne dabei entsprechende Gegenleistungen für Ostbelgien herauszuholen. Während bei älteren Parteimitgliedern noch revisionistische und volkstümelnde Einstellungen anzutreffen sind, die schwarzbraun nach rechts ausfransen, gibt es in der jüngeren Basis Linke, Regionalisten und eine kulturelle Intelligentia, die eng verflochten ist mit dem regen Theater -, Musik- und Literaturleben in und um St.Vith, dem Hauptort des Südens. Während sich „deutsche“ Kultur in vielen Orten Ostbelgiens in Tirolerfesten und Egerländer Blasmusik entlädt, entfaltet diese „Szene“ mit einigem Erfolg ein autochthones, mit rheinischen, luxemburgischen, Ardenner und internationalen Einflüssen gewürztes Kulturleben.

Den südlichen Ausklang der Ostkantone in Richtung Luxemburg bildet das Ourtal. Im Oberlauf stellenweise mäandrierend, hat der kleine Fluß Our auf seinem Weg nach Süden hier ein herrliches Tal mit breiter Sohle aus dem Schiefer gefräst; ginsterbestandene Steilhänge, winzige Bauerndörfer mit weniger als 100 Einwohnern und satte Talauen - das Ourtal ist immer noch ein Stück ländliches Idyll geblieben. Hier wie im gesamten Bereich der Ostkantone südlich des Venns ist der Tourismus Hoffnungsträger für die weitere ökonomische Entwicklung. Dementsprechend lebhaft ist denn auch die Diskussion, welche touristische Richtung für die Region einzuschlagen sei. Für den Norden gibt es einige ansiedlungswillige Großunternehmer wie die Center Parcs -Kette und einen Golf-Promoter, die Lage und Landschaft lediglich als billige Kulisse einplanen und das knallharte Gegenteil eines integrierten Tourismus darstellen, andererseits aber als reale Alternative mit Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen winken.

Die Diskussion um einen umwelt- und sozialverträglichen Tourismus wird auch hier in den Ostkantonen intensiv geführt, aber die „sanften“ Ansprüche verflüchtigen sich sofort, wenn man solchen Großprojekten wenig Konkretes entgegensetzen kann.