Stadt, Land, Lieb und Wahn

■ Junge Autoren beim Theaterfestival in Avignon

Klaus Gronau

Auf der großen Bühne im Ehrenhof des Papstpalastes tummelte sich Jeanne Moreau, in Szene gesetzt von Antoine Vitez, als Celestine. Jean-Pierre Vincent, der designierte Nachfolger Chereaus im Theatre des Amandiers von Nanterre, spürte in einer antiken Trilogie (Ödipus Tyrann, Ödipus auf Kolonos, Die Vögel) den Ursprüngen der Demokratie nach. Und Matthias Langhoff lieferte mit der Montage von Heiner Müllers Auftrag und Arthur Schnitzlers Grünem Kakadu eine Art Vexierbild von der großen Revolution zu deren 200.Geburtstag. Die Klassiker von Griechenland bis heute waren mithin im offiziellen Festivalprogramm von Avignon wieder stattlich vertreten und von illustrer Hand angerichtet.

Daneben aber gab es als Neuheit in diesem Jahr - nach all den Klagen über die Päpste des Regietheaters und ihre ewig -klassischen Vorlieben, einen regelrechten Schwerpunkt „junge AutorInnen“: nicht mehr „nur“ in jenem sonnenglühenden Kreuzgang der Chartreuse von Villeneuve-les -Avignons, wo der Pariser Verlag Theatrales, wie schon im Vorjahr, eine ganze Lektürereihe mit AutorInnen und Werken der Gegenwart aus Frankreich, Belgien, Kanada und anderen Ländern anbot; und nicht mehr „nur“ im Off-Programm, dessen großformatige Broschüren diesmal - auch das ein Anzeichen für eine erhöhte Aufmerksamkeit - außer der schier unübersehbaren Zahl der Kurzanzeigen für Gruppen und Aufführungen eigens eine Liste der aufgeführten sowie der adaptierten AutorInnen (von Alarcon, Marc bis Zaepfel, Gilles) enthielt; sondern mit allen offiziellen Weihen und auf mehreren Spielstätten des ehrenwerten (über 40 Jahre) alten Festivals, für das ein Teil der neuen Texte überhaupt erst verfaßt worden war. Paris und Provinz

Thematisch oder zumindest strukturell bestimmende Konstante in mehreren dieser Stücke war (überraschenderweise?) das Verhältnis von Stadt und Land, der Gegensatz von Paris und Provinz.

Direkt, einfach und burlesk in Joel Jouanneaus „ländlicher Komödie„ Le Bourrichon. Dieser Titel ist abgeleitet von der Redensart „se monter le bourrichon“, die nicht einmal im großen Littre verzeichnet ist und nach den nicht immer übereinstimmenden Auskünften verschiedener befragter native speakers soviel heißen muß wie: sich endlos und mit wachsender Begeisterung vorzugsweise triste Geschichten erzählen.

Das tut jedenfalls der Autor auch: Er berichtet vom Elend der Provinz, doch präsentiert er und präsentierten vor allem die wie losgelassenen SchauspielerInnen jenes mit soviel clowneskem Elan, daß es den ZuschauerInnen, sofern sie sich auf diesen liebevoll satirischen Herabblick des in die Großstadt Entkommenen einlassen mochten, gehörig das Zwerchfell erschütterte.

Der im Telegrammstil verfaßte Monolog der geistig behinderten Colette Cresson (Marie Guittier), die von ihrer Krankheit, ihren Ärzten und ihrer Therapie erzählt, die wutschnaubende Eifersuchtstirade ihres Bruders Lucien (Jean -Quentin Chatelain), Hobbyphilosoph und Spezialist für Monadologie, gegen den Dorfschuster, der seine Jugendliebe verführt und dann mit einem Schuhband erdrosselt hat, der Bericht seines Freundes, des Ornithologen Rene Boulard (Jacques Denis) über einen Tierporträtmaler mit daraus folgender Kolibri-Expedition in die Anden - das alles sind wahre schauspielerische Bravourstückchen. Wer will, kann sie sich im kommenden Oktober/November im Pariser Theatre Ouvert zu Gemüte führen.

In dem mysteriös-grotesken Familiendrama Les Parisiens ou l'ete de la memoire des abeilles, das Pascal Rambert mit einem Stipendium des Kulturzentrums der Chartreuse geschrieben und im traumhaft schönen Park einer alten Villa auf der Rhone-Insel La Barthelasse inszeniert hatte, geht es wesentlich härter zu - kein Wunder, denn der erst 26jährige Autor hat schon einen Ruf als aggressives Jungtalent zu verteidigen.

Sein Stück schildert ein Familientreffen auf dem Lande: Im Haus des alten Caron (Jean-Paul Roussillon), der mit seiner nach gescheiterter Ehe nervenkranken Tochter Clemence (Mireille Perrier) und deren bizarrer Freundin Rosalie (Dominique Frot) zusammenlebt, treffen sich die übrigen Verwandten und Freunde ausschließich der jungen Generation.

In einem ersten Teil sieht man, wie die alten Animositäten und Feindschaften aufbrechen, nach der Pause erfährt man dann - überraschend spät - die Vorgeschichte: die Generation der Väter - Kriegsveteranen, die nicht auftreten, die man sich aber unschwer wie eine provinzielle Verschwörerbande aus Koltes'Rückkehr in die Wüste vorstellen kann - hat einst einen unliebsamen Kommunisten in seiner Scheune eingesperrt und verbrannt.

Der Autor läßt den alten Caron dieses als Unfall vertuschte Verbrechen aufdecken und dann den in die Hauptstadt emigrierten jungen Leuten (seiner eigenen Generation?) ob ihrer Oberflächlichkeit, ihres Desinteresses an den politischen Machenschaften der Vergangenheit und Gegenwart die Leviten lesen - bis er seinen väterlichen Mahner schließlich von einem der Jungen seinerseits als Bösewicht enttarnen läßt.

Diese schrittweise Relativierung der vorgeführten moralischen Positionen bezeichnete der Autor in einer Debatte mit dem Publikum selbst als eines der Gestaltungsprinzipien seines Stücks, in dem nach und nach alle Geschichten der auftretenden 16 Personen entfaltet werden. Und er bekannte sich auch zu den Anleihen: eine nicht sehr entfernte Verwandte der aus ShakespearesSommernachtstraum in den Park von Botho Strauß geratenen Göttergestalten oder auch der traurigen Engel aus Wim Wenders Himmel über Berlin, die Jungfrau Marie -Marguerite, erscheint - wie weiland die Heiligen der Johanna von Orleans - im Baum und kommentiert das Geschehen in Versen, bis sie sich ins irdische Geschehen mischt, allen Männern auf dem „Fest“ den Kopf verdreht und prompt vergewaltigt wird.

Von ursprünglich sieben Stunden Aufführungsdauer hatte Rambert sein Stück auf viereinhalb zusammengestrichen. Dennoch blieb der Eindruck des bloß unkontrolliert Hingeschriebenen, der nicht bewältigten Inkohärenz (die der Autor freilich als bewußte Verweigerung eines einheitlichen Stils zu rechtfertigen suchte), der mangelnden Distanz zum eigenen Text. Insofern erscheint es fraglich, ob die Fusion von AutorIn und RegisseurIn wirklich einen Ausweg aus der simultanen Energiekrise von Gegenwartsdramatik und Regietheater zu weisen vermag (InteressentInnen können sich im September im Theatre d'Aubervilliers über Ramberts Parisiens selber ein Urteil bilden.).

Ähnliche Fragen warf auch Catherine Annes neues Stück Eclats auf. Aus ihrer vorhergehenden Produktion Combien de nuits faut-il marcher dans la ville (1988 im Theatre de la Bastille) wußte man schon, daß diese junge Autorin -Regisseurin wunderbar spontane, jugendliche, scheue und verspielte Liebesbegegnungen erzählen kann. Dies gelang ihr auch hier, und das Vergnügen daran dauerte etwa anderthalb Stunden. In der dann noch verbleibenden Stunde aber offenbarte diese Geschichte von zwei jungen Mädchen, die voller Hoffnung aus der Provinz nach Paris aufbrechen, wo die eine ihren Lebenspartner, ihren Beruf und schließlich noch den Erfolg findet, während die andere, „zerrissenere“ von einem Liebesabenteuer ins nächste taumelt, eine tiefe künstlerische Schaffenskrise und Depression durchmacht und schließlich Selbstmord begeht, daß der Autorin für die Gestaltung solcher Themen wie Künstlerproblematik, Krankheit und Tod vielleicht (noch?) der Atem fehlt.

Revolution

Dem Gebot des Kalenders entsprechend gab es unter den Stücken junger AutorInnen auch zwei, die sich mit dem Themenkreis der Französischen Revolution befaßten. Doch scheint es, daß dieser, in der Verkürzung auf die Erklärung der Menschenrechte, in Frankreich generell so sehr von der offiziellen Politik und den Medien besetzt war, daß neben den Massenspektakeln (etwa Robert HosseinsLa Liberte ou la Mort im Palais des Sports) kaum eine ernsthafte Auseinandersetzung auf dem Theater möglich schien.

Eine Wiederaufführung von Mnouchkines 1789 vom Theatre Jel in Bordeaux zum Beispiel zeigte nur zu deutlich, daß heute der Wind in andere Richtungen weht - an wen richtet sich Marats Aufruf zur permanenten „emeute populaire“, wenn die „Volksmassen“ am 14.Juli vom frühen Morgen an mit Sandwich-Paketen und Thermosflaschen die Champs-Elysees säumen, um Goudes Jubiläumsparade La Marseillaise mitzuerleben? -, und auch der Versuch einer Rehabilitierung Robespierres, Terminus Thermidor, den Avignons Lokalschreiber Andre Benedetto im Off-Festival vorführte, fiel eher kläglich aus.

Auf den Spuren der neueren Geschichtsschreibung („Alltagsgeschichte“) stellten einige AutorInnen bislang unbekannte historische oder frei nacherfundene Figuren ins Zentrum ihrer Stücke (zum Beispiel Pierette Dupoyets Madame Guillotin, Claudine Galeas Marie 89 oder auch Laurence Fevriers Des Franaises) oder sie adaptierten bisher theatralisch ungenutzte historische Dokumente (Faye/Starkier: Pere Duchesne, Jay/Rossfelder: Doleances). Andere - wie zum Beispiel Denis Guenoun in Reims mit seinem Stück La Levee, über Valmy, die deutschen Jakobiner, die Romantische Bewegung und Napoleon wählten die „Randgebiete“, die Auswirkungen und Erschütterungen der Revolution über Frankreichs Grenzen hinaus als Thema.

Im offiziellen Festivalprogramm in Avignon war dieser letztgenannte Ansatz nicht nur mit Langhoffs Dopppelinszenierung von Müller und Schnitzler vertreten. In einer französisch-brasilianischen Gemeinschafsproduktion zeigte der von Gildas Bourdets Theatre de la Salamandre herkommende Regisseur Alain Milianti in portugiesischer Sprache Louis-Charles Sirjacqs Stück O Pais dos Elefantes. Es handelt von dem brasilianischen „Jakobiner“ Joaquim Jose da Silva Xavier, einem Volkshelden mit dem populären Namen Tiradentes, der als Anführer einer vorab verratenen Rebellion gegen die portugiesische Kolonialherrschaft 1792 in Rio geköpft und gevierteilt wurde.

Sirjacqs Text überrascht durch die Wahl der Form - zwar verzichtet der Autor auf Vers und Einheit von Zeit und Ort, doch ansonsten hält er sich spürbar an die Prinzipien des klassischen französischen Theaters: Im Mittelpunkt steht der Held, der hier freilich kein König, sondern ein Revolutionär ist, an seiner Seite die Vertrauten (seine beiden SklavInnen), eine reiche Gutsbesitzerin, die ihn liebt und beschützen will. Gegenspieler sind die Männer der liberalen Verschwörung, die den volkstümlichen Tiradentes zunächst für ihre aufrührerischen Päne gewinnen wollen und dann ausliefern.

In schönster klassizistischer Tradition bleibt das Volk ebenso außen vor wie die eigentliche revolutionäre Aktion, alle Handlung findet vielmehr als Wortgefecht statt, und Miliantis sparsame Regie - von ihm selber als Alternative zu den im brasilianischen Showgeschäft vorherrschenden spektakulären Techniken gerechtfertigt - unterstrich das noch, ebenso wie das Fehlen des Originaldekors der brasilianischen Uraufführung, für den im malerischen Innenhof des Cloitre des Celestins in Avignon kein Platz war.

Die starken Stellen des Textes - der Eingangsmonolog des schon zu Beginn todessüchtigen Protagonisten (Antonio Fagundes), dessen Debatten mit dem Sklaven Tiao (Aldo Bueno), der zunächst gegen den Willen seines Herrn Sklave bleiben und diesen dann vor dem Ende in sein geträumtes Afrika, das utopische „Land der Elefanten“ mitnehmen will, die selbstrechtfertigenden Monologe des Verräters Silverio (Francarlos Reis) - überzeugten auch durch die schier unglaubliche Energie der Schauspieler (die ihren Ursprung freilich womöglich eben in den vom Regisseur geschmähten heimischen Produktionsbedingungen hat).

Insgesamt aber wurde es dem Publikum vielleicht etwas zu leicht gemacht, diesen lächelnd resignierten Revolutionär, der träumt oder mühsam mit Hilfe eines Lexikons Diderot zusammenbuchstabiert, der sich aber die Hände nicht schmutzig macht, da er nie handelt und am Schluß gar noch seinen Verräter großherzig der Verurteilung durch das eigene Gewissen überläßt, sympathisch zu finden.

Schwerer hatten es die Zuschauer in Jean-Pol Fargeaus neuem Stück Brule, riviere, brule, das Robert Girones in einer Fabrik in Avignons Industrievorort Curtire inszeniert hatte. Es erzählt von der Befreiung der Sklaven in Guayana durch ein Bündnis von Aufständischen mit den Emissären der revolutionären Französischen Republik.

Im zweiten Teil spürt Fargueaus Text den Erscheinungsformen des Rassismus im Alltagsdenken der weißen Kolonialherren nach und auch den Schwierigkeiten der Unterdrückten und ihrer revolutionären Freunde, sich aus diesem Denken und den sich daraus ergebenden Verhaltensmechanismen herauszuarbeiten. Doch bleibt er damit mitunter im Klischee stecken, und die Regie, die den großenteils in Kurzsequenzen verfaßten Text nicht in seiner kinematographischen Geschwindigkeit faßte, sondern ihm durch Komplikation des Bühnengeschehens und Langsamkeit offenbar zusätzliche Bedeutungsschwere verschaffen wollte, dehnte diese Dejaa-vu -Momente dann bis zur Peinlichkeit.

So wurde vom Zuschauer zwar Anstrengung gefordert, doch ließ sich deren Nutzen nicht unbedingt ausmachen, und ein großes Thema - dessen Bedeutung noch durch eine von der Zeitschrift 'La Croix‘ (im Beisein des Kulturministers!) organisierte Debatte mit dem Titel „Zweihundert Jahre danach immer noch Sklaven“ unterstrichen wurde - schien verfehlt.

Physiologisches Theater

Die Anstrengung, die Arbeit des Zuschauers - das war auch eine Leitidee in den Verlautbarungen von Valere Novarina, einem weiteren jungen Autor, von dem beim diesjährigen Festival gleich drei Werke präseniert wurden: L'Atelier volant, ein Text aus dem Jahre 1971, und Lettre aux acteurs, die Adaptierung eines Briefes, den Novarina aus Anlaß der ersten Einstudierung des Atelier volant an die damaligen Schauspieler geschrieben hat und in dem seine extrem physiologischen Vorstellungen von Theater- und Schauspielkunst formuliert sind; schließlich das neue Stück Vous qui habitez le temps. Dessen Titel ist einem Bibelpsalm entlehnt, der die conditio humana insgesamt bezeichnet und nach Auskunft des Autors präziser mit „Ihr, die ihr aufrecht im Schrecken verharrt“ zu übersetzen wäre.

Eine nacherzählbare Handlung gibt es nicht, die Auftritte der Personen sind geregelt wie „das Erscheinen von Planeten, die um eine unsichtbare Sonne kreisen“ und mithin je nach ihrer Stellung im System auftauchen und wieder verschwinden. Sie tragen rätselhafte Namen (La Femme aux Chiffres, Le Chercheur de Falbala, Les Enfants parietaux usw.) und berichten, überwiegend in langen Monologen, über ihr Leben: Schier endlose Listen von Wohnorten werden aufgezählt, Berufe, die ausgeübt, und Krankheiten, die durchgemacht wurden.

Vorherrschendes Stilprinzip des Autors ist dabei das Aneinanderreihen von Formeln und Mustern der Alltagssprache (zum Beispiel Straßennamen, Berufsbezeichnungen, aber auch Sprichwörter und Redewendungen), die systematisch deformiert werden. Eine gewisse Einheit stellt sich dadurch her, daß diese Verformungen beharrlich in dieselbe Richtung weisen, die der Autor wohl meinte, als er in seinem Kommentar zum Titel des Stücks auf den „Schrecken der irdischen Existenz“ anspielte.

Die Zuschauer, die die zweieinhalb Stunden währende Aufführung bis zum Ende durchstanden, zeigten sich beeindruckt von der Leistung der Schauspieler - sowohl beim Auswendiglernen als auch bei der (in der Inszenierung des Autors) differenzierten Darbietung des Textes. Ob sie freilich dem „Arbeitsauftrag“ Novarinas wirklich Folge geleistet haben und seinen Sprachverfremdungsübungen bis in jedes Detail nachgegangen sind, oder ob sie sich eher dem intellektuellen Vergnügen an einer Art Wortmusik aus Vertrautem und überraschend Variiertem überlassen haben, muß dahingestellt bleiben.

Ohnehin bleibt abzuwarten, was ein analytisches Herangehen aus diesem Text zu Tage fördern mag. Es ist nämlich nicht auszuschließen, daß das vom Autor gewählte Kompositionsprinzip selbst das Vordringen zu tiefergehenden Aussagen ausschließt, so daß im Ergebnis letztlich doch nur scheinphilosophische Wortspielereien herauskommen. Die Anstrengung des Zuschauers: das ist eine Formel, die manches abdecken und vieles rechtfertigen kann - für sich genommen kann sie ebenso leer sein wie das oberflächliche Vergnügen der Unterhaltungsindustrie, dem sie sich scheinbar entgegenstellt.

Die Neuen und die Alten

Die jungen Autoren beim diesjährigen Festival in Avignon: einiges Gelungene, Interessante, viel Unvollkommenes oder gar Fragwürdiges - also das altgewohnte Resultat, wenn man etwas Neues unternimmt.

Dieses jedoch scheint nicht bloß löblich, sondern schlichtweg dringend geboten. Ein junger, doch schon namhafter französischer Regisseur erzählt, er wollte ein Stück eines Gegenwartsautors uraufführen, aber man riet ihm von mehreren Seiten freundschaftlich ab: für eine spätere Tournee durch die nationalen Centres Dramatiques der Provinz sei ein Klassiker einfach leichter abzusetzen - ein innerhalb des französischen Theatersystems schier unabweisbares ökonomisches Argument. Nun wird er einen Corneille inszenieren.

Vielleicht ist es an der Zeit, in Frankreich und anderswo eine neue „Querelle des Anciens et des Modernes“ anzuzetteln - jenen berühmten Literaturstreit an der Wende vom 17. ins 18.Jahrhundert, in dessen Verlauf die aus der Renaissance ererbte bedingungslose Verehrung der antiken Schriftsteller als zeitlos gültige Muster relativiert und durch eine historisierende Betrachtung ersetzt wurde. Dadurch konnte die damals zeitgenössische (und heute klassische) Literatur ihren eigenen Rang einnehmen.

Vielleicht ist es an der Zeit, gegen die gehegten Klassiker der bürgerlichen Nationalstaaten, die durch alle Neudeutungen und Umfunktionierungen des Regietheaters hindurch ehern ihren Status im Publikumsbewußtsein und in den Spielplänen behauptet haben, eine analoge Polemik zu führen.

Auf jeden Fall ist es an der Zeit, hierzulande mit dem verbreiteten Vorurteil aufzuräumen, es gebe in Frankreich heutzutage keine Gegenwartsdramatiker, mit denen die Beschäftigung lohne.

„Le Bourrichon“, Les Parisiens“, „Eclats“ und Brule, riviere, brule“ sind erschienen im Verlag Actes Sud/Papiers; „O Pais dos Elefantes“ zweisprachig französisch -portugiesisch in: Avant-Scene/Theatre Nr.852/853; „Vous qui habitez le temps“ im Verlag P.O.L.