Geschäfte mit den „lieben Landsleuten“

Aussiedler sind die rauhen Sitten im Kapitalismus nicht gewohnt / Versicherungsvertreter und dubiose Geschäftemacher tummeln sich in der Durchgangsstelle Unna-Massen / Mit „Schaukochen“ in den Wohnheimen werden Kochtöpfe angepriesen  ■  Von Thomas Gesterkamp

Waldemar Badura (Name geändert) versteht die Welt nicht mehr. Der Familienvater aus Oberschlesien, der vor sieben Monaten in die Bundesrepublik aussiedelte, ist zum Opfer eines Versicherungsagenten geworden. Ratlos überfliegt der 48jährige die Policen, die er auf dem Tisch seiner Notunterkunft im westfälischen Unna ausgebreitet hat. „Eigentlich wollte ich nur das Auto anmelden, nich“, erzählt er in gebrochenem Deutsch. „Aber dann haben sie noch andere Sachen zugeschrieben.“

Neben der Pflichtversicherung für seinen Wagen schwatzte der Vertreter dem Aussiedler drei weitere, nicht unbedingt notwendige Verträge auf: Familienrechtschutz, Verkehrsrechtschutz und Unfallversicherung, noch dazu mit Laufzeiten von bis zu zehn Jahren. Die angsteinflößene Begründung des Agenten: Das gehöre alles zusammen, in Deutschland sei das so üblich. Jetzt muß Waldemar Badura pro Quartal fast 400 Mark Versicherungsbeiträge zahlen, obwohl er noch keine Arbeit gefunden hat: „Das ist für uns etwas zu viel, wir haben nicht genug Geld.“

Durchgangslager verwandelt sich in Basar

Die rund 400.000 Aussiedler aus Polen, Rumänien und der Sowjetunion, die nach Schätzungen allein dieses Jahr in die Bundesrepublik kommen sollen, werden nicht nur von der Bonner Regierung willkommen geheißen. Auch dubiose Geschäftemacher begrüßen sie. Fälle wie der geschilderte sind für Ulrike Hoffrogge schon zum Alltag geworden. „Die Leute hier sind die rauhen Sitten im Westen noch nicht gewohnt“, sagt die Leiterin der Verbraucherberatungsstelle im Durchgangslager Unna-Massen bei Dortmund.

Die nordrhein-westfälische „Landesstelle für Aussiedler, Zuwanderer und ausländische Flüchtlinge“, wie die offizielle Bezeichnung lautet, verwandelt sich bei gutem Wetter in eine Art Basar. Menschen drängeln sich zwischen Bierständen und Hähnchenbuden, fliegende Händler preisen Lebensmittel, Teppiche oder Kochtöpfe an. Zwar hängen in den verstreut liegenden Häusern der ehemaligen Bergarbeitersiedlung überall Schilder, die Hausbesuche von Vertretern untersagen. Doch spätestens gegen Abend, wenn sich die langen Wartereihen vor der Meldebehörde oder dem Arbeitsamt gelichtet haben, durchstreifen trotz des offiziellen Verbots „Drücker“ das Gelände. Sie verkaufen warme Bettdecken, bieten Zeitschriftenabonnements an oder wollen Versicherungsverträge abschließen.

Eine amerikanische Kochtopffirma veranstaltet in den mit Betten vollgestopften Zimmern der Aussiedlerwohnheime gelegentlich ein regelrechtes „Schaukochen“. Dann preisen die Vertreter die vitaminschonende Zubereitung der Speisen und den geringen Stromverbrauch ihrer Produkte. An die Zuhörer verteilen sie Wein und andere kleine Geschenke. Die aufkommende gute Stimmung zahlt sich aus: Ohne lange Überlegung schließen manche Aussiedler Kaufverträge ab - zum Beispiel für Töpfe, die im Set bis zu 2.000 Mark kosten, aber in vergleichbarer Qualität anderswo erheblich billiger zu haben sind.

Nepper überrumpeln

die Einwanderer

„Die Aussiedler können mit dem großen Warenangebot bei uns nicht sofort umgehen“, sagt die Verbraucherberaterin Hoffrogge, die bisweilen den überteuerten Supermarkt auf dem Gelände durchstreift. „Wenn schon mal etwas in den Regalen liegt, denken die Leute, sie müßten sofort zugreifen.“ Die Einwanderer aus Schlesien oder Kasachstan, oft erst wenige Tage im Westen, haben die Spielregeln des Kapitalismus noch nicht gelernt. An Versorgungsengpässe gewöhnt, lernen sie erst langsam, Preise zu vergleichen und auch mal mit einem nur halb gefüllten Korb zur Kasse zu gehen. Zu groß ist die Angst, morgen könnte alles ausverkauft sein.

Skrupellose Vertreter haben bei den ahnungslosen Neubürgern leichtes Spiel. „Viele Aussiedler glauben alles, was ihnen die Werbung verspricht“, berichtet ein Sozialarbeiter. „Die können sich überhaupt nicht vorstellen, daß man sie hereinlegen will.“ Sprachschwierigkeiten forcieren den Nepp: Nur wenige der Neuankönnlinge können so gut Deutsch, daß sie auch die juristische Fachterminologie im „Kleingedruckten“ verstehen.

Damit es bei der Akquisition neuer Kunden keine Sprachprobleme gibt, beschäftigen immer mehr Versicherungen eingewanderte Polen als Verkaufsagenten. Das Büro der ARAG zum Beispiel, die schon auf der Straße zur Durchgangsstelle Unna-Massen mit großen Hinweisschildern auf sich aufmerksam macht, leitete bis vor kurzem ein ehemaliger Aussiedler. Wegen unseriöser Geschäftsmethoden hat sich die Gesellschaft mittlerweile von ihrem Filialleiter getrennt. Dieser machte daraufhin im Stadtzentrum Unnas das harmlos klingende „Verbraucher Versicherungsvermittlungs Zentrum“ auf. „Lieber Landsmann“, heißt es vertrauensweckend in den Faltblättern, die der Vertreter unter die Scheibenwischer der Autos mit polnischem Kennzeichen klemmt. So lockte er auch Waldemar Badura in seine Agentur.

Aussiedler als „Vollblutkämpfer“

Aussiedler lassen sich unnötige Verträge aufschwatzen und werden mit zu hohen Tarifen übervorteilt. Sie versichern Hausrat, den sie noch gar nicht gekauft haben, oder erwerben einen Vollkaskoschutz für ihren klapprigen Polski-Fiat. Allerdings reagieren einige Assekuranzen kulant, wenn derartige Fälle öffentlich bekannt werden, weil sich die Übertölpelten an eine Beratungsstelle gewandt haben. Die unterschriebenen Verträge werden dann in der Regel storniert. Die Dortmunder Agrippina-Direktion hat ihre Vertreter gar angewiesen, das Verhökern von Versicherungspaketen an Aussiedler ganz einzustellen.

Für die Verbraucherschützer wird die umfassende Information der Neubürger zusehends schwieriger, denn diese bleiben meist nur wenige Wochen in den Durchgangsstellen. Das eigentliche Geschäft verlagert sich immer mehr in jene Orte, in denen die Aussiedler Übergangswohnungen beziehen. Vor allem die Konsumgüterindustrie wittert dort interessante neue Märkte.

„Gewinn durch Aussiedler - Schaffen und Anschaffen“, titelte jüngst das Wirtschaftsmagazin 'Capital‘. Trotz allen Unmuts in der Bevölkerung: Die Neuankömmlinge seien „konjunkturbelebende Vollblutkäufer“ und steigerten das Bruttosozialprodukt. „Weil sie fast ihren gesamten Besitz zurücklassen müssen, haben Aussiedler einen immensen Anschaffungsbedarf“, jubelte das Managerblatt: „Auf Jahre geben sie ihr gesamtes Einkommen für langlebige Konsumgüter aus.“

Hoher Lebensstandard - meist auf Pump

„Starke Konsumwünsche“ hat auch Ulrike Hoffrogge beobachtet. Der Verbraucherberaterin zufolge investieren die Neubürger größere Summen, wenn sie sich in den Notunterkünften und Sozialwohnungen vor allem der Großstädte niederlassen. Dann nämlich wollen sie ihren zurückgebliebenen Verwandten und Bekannten mit kostspieligen Anschaffungen beweisen, daß der Schritt in den Westen erfolgreich war. Sie kaufen große Autos, perfekte Einbauküchen, wertvolle Schrankwände und teure Musikanlagen - meist auf Pump. Die Folgen des Konsumrausches sind Schuldenberge, die viele Aussiedler erst wieder abtragen können, wenn sie eine Arbeitsstelle gefunden haben. Das aber kann dauern - besonders, wenn sie kein Deutsch können und die Sprache in monatelangen Kursen erst mühsam lernen müssen.

Um die unerfahrenen Neuankömmlinge vor dubiosen Händlern zu schützen, haben die Verbraucherverbände spezielle Informationsbroschüren herausgebracht - in Polnisch und in Russisch. „Vorsicht bei Geschäften an der Haustür“, „Das Kleingedruckte verdient große Beachtung“ oder „Geld kostet viel Geld“ - so warnen die „Verbrauchertips für Aussiedler“.

Weniger finanzielle als vielmehr politische Vorteile versprechen sich andere Gruppierungen, die in Durchgangsstellen und Wohnheimen ihre Klientel zu finden glauben. Die rechtsradikale „Deutsche Volksunion“, aber auch die Vertriebenenverbände werben gezielt um Aussiedler. Jede Stimme für die DVU sei „eine Stimme für das deutsche Volk und sein Lebensrecht“, hieß es etwa in den amtlich aussehenden Formblättern, mit denen die Neonazis um Unterschriften für ihre Kandidatur bei der Europawahl baten. Wegen eines aufgedruckten Bundesadlers hielten die verunsicherten Adressaten das Schreiben prompt für einen Behördenbrief. „So werden die Leute gleich am Deutschtum gepackt“, kommentiert ein Sozialarbeiter, der bei der Arbeiterwohlfahrt Aussiedler berät. „Das ist für sie etwas Existenzielles, da sie ja nachzuweisen haben, daß sie Deutsche sind.“