: Türkei: Gefangene hungern sich zu Tode
Fünf der hungerstreikenden politischen Häftlinge liegen im Sterben / 47 sind in einer lebensbedrohlichen Situation / Familienangehörige der Gefangenen wurden bei Protestmarsch zusammengeknüppelt / Gefängnisverwaltung verweigert den Streikenden Zucker und Salz ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
In der türkischen Stadt Aydin liegen fünf politische Häftlinge, die seit 44 Tagen hungern, im Sterben. Auch die Situation der Hungerstreikenden im Gefängnis von Aydin hat sich weiter verschärft. Inzwischen befinden sich 47 der insgesamt 257 Gefangenen im staatlichen Krankenhaus. Nach Auskunft der Ärzte ist ihre Lage lebensbedrohlich. „Wenn nichts getan wird, verwandelt sich das Gefängnis von Aydin in ein Leichenschauhaus. Das Massensterben kann jeden Augenblick beginnen“, berichtete der sozialdemokratische Abgeordnete Fikri Saglar nach einem Besuch im Krankenhaus.
Seit Tagen harren Familienangehörige vor dem Krankenhaus in der Hoffnung, Informationen über den Gesundheitszustand der Gefangenen zu erhalten. Gestern wollten rund 100 Familienangehörige einen Protestmarsch zur Justizbehörde in Aydin formieren: „Wir werden unsere Söhne nicht ermorden lassen“, riefen die Teilnehmer. Die Polizei knüppelte die Demonstranten - hauptsächlich Mütter der Hungerstreikenden brutal nieder. 40 Personen wurden festgenommen.
Nachdem noch vorgestern ein Entgegenkommen der türkischen Justizverwaltung gegenüber den Forderungen der Hungerstreikenden nach besseren Haftbedingungen möglich schien, gingen Justizministerium und Gefängnisverwaltung dann doch wieder auf Konfrontationskurs. Ohne Grund verweigert die Gefängnisleitung den Hungerstreikenden jetzt auch Zucker und Salz. „Die Özal-Regierung vollzieht faktische Todesurteile“, bemerkt der Sprecher der sozialdemokratischen Abgeordnetendelegation Saglar zum Zucker- und Salzverbot. Die drei vor Ort anwesenden sozialdemokratischen Parlamentarier haben daraufhin ihre Vermittlerrolle aufgegeben. Der zuständige Staatsanwalt sowie die Gefängnisverwaltung lehnen Unterredungen mit den Anwälten der Gefangenen sowie mit einem neuen Vermittler der sozialdemokratischen Partei ab.
Der Hungerstreik der Familienangehörigen in den Städten Aydin und Adene und Marsin dauert weiterhin an. In 14 türkischen Gefängnissen befinden sich rund 2.000 politische Gefangene in Solidaritätshungerstreiks mit den Gefangenen in Aydin. Ein Sprecher des türkischen Menschenrechtsvereins berichtete gegenüber der taz, daß sich außerdem im Gefängnis Bayrampasa in Istanbul 3.000 Gefangene dem Protest angeschlossen haben und seit sechs Tagen die Nahrungsaufnahme verweigern. Auch Gefangene, die nicht aus politischen Gründen einsitzen, haben sich dem Hungerstreik angeschlossen. Auch die landesweiten Protestaktionen gegen die Haftbedinungen in den Gefängnissen gehen weiter. Mehrere Istanbuler Frauengruppen klagten in schwarzen Kleidern die starre Haltung der Justizverwaltung an. Sechs Teilnehmerinnen wurden dabei festgenommen.
23 Berufsverbände haben ein „Notstandskomitee Menschenrechte“ ins Leben gerufen. Das Notstandskomitee schickte ein Telegramm an Justizminister Oltan Sungurlu: „Wir fordern Gerechtigkeit und einen Justizminister, der diese verwirklichen kann. Treten sie zurück.“
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