Spaltung wird vorangetrieben

■ Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Brandt, protestiert gegen den Druck auf die Menschen, die täglich zum Arbeiten nach West-Berlin kommen

Die Behörden in Ost-Berlin haben neue Maßnahmen ergriffen, die die Situation in unserer Stadt verschärfen. Ich meine die Anordnungen des Ostmagistrats, nach denen die Grenzgänger ihre Mieten, ihre Licht- und Gasrechnungen in Westmark bezahlen sollen. Zu anderen Zeiten hätte man über eine solche Anordnung nur lachen können, denn jedenfalls steckt in ihr auch das Eingeständnis, daß die Westmark eine bessere Währung ist als die Ostmark. Man hat es nicht oft, daß Behörden ihren eigenen Leuten verbieten, bestimmte Zahlungen in der eigenen Währung vorzunehmen, sondern eine andere und sonst geschmähte Währung als Zahlungsmittel verordnen.

Der Ostmagistrat ist insofern dabei realistisch, als er, ohne es zu sagen, davon ausgeht, daß er selbst ebenso wie alle anderen weiß, daß die Westmark eine bessere Währung ist als die Ostmark. Ohne dieses Eingeständnis gäbe es gar keine Erpressung.

Die in Ost-Berlin amtierenden Behörden haben sich statt dessen zu diesem indirekten Eingeständnis nur verleiten lassen, weil sie darin Mittel sehen, die Spaltung der Stadt weiter voranzutreiben und auf die Grenzgänger Druck auszuüben, ihren Arbeitsplatz in West-Berlin aufzugeben. Diese Menschen sind im Augenblick nur Mittel zum Zweck, Mittel zum Zweck für das kommunistische Regime, den sogenannten Spannungsherd Berlin zu verschärfen und zu beweisen, daß der gegenwärtige Zustand geändert werden müsse. Die Behörden der Zone wissen offenbar nicht, daß sie mit dem Feuer spielen.

Was sich zur Zeit in Ost-Berlin und in der Zone abspielt, ist beschämend. Die Maßnahmen, denen unsere Landsleute ausgesetzt sind, sind nur vergleichbar mit dem Terror, zu dem die vorigen Diktatoren immer dann griffen, wenn sie Widerstand spürten. Ulbricht hat seinen Funktionären befohlen, mit allen organisatorischen und propagandistischen Mitteln gegen die Menschen vorzugehen, die in seinem Herrschaftsbereich wohnen und in West-Berlin arbeiten. Man nennt diese Mitbürger zwar Grenzgänger, aber es gibt bekanntlich zwischen den vier Sektoren Berlins keine staatsrechtlichen oder völkerrechtlichen Grenzen. Man sollte sich also von einem unzutreffenden Ausdruck nicht irreführen lassen, auch wenn er sich eingebürgert hat.

Rias, 6.August '61