Mudschaheddin-Streit ist Chance für Kabul

■ Sechs Monate nach dem sowjetischen Truppenabzug setzt Kabul auf eine politische und die USA auf eine militärische Lösung Angehörige der radikalfundamentalistischen Hekmathiar-Fraktion müssen sich vor einem Gericht der Mudschaheddin-Regierung verantworten

Kabul (taz/afp/wps) - Fast täglich wird die afghanische Hauptstadt vom Geschützdonner der Artillerie der Mudschaheddin erschüttert. Fünf Schulen und zwei Kindergärten waren in den vergangenen sechs Wochen bei den Raketenangriffen getroffen worden. Die Zahl der zivilen Todesopfer wächst von Tag zu Tag. „Was können wir Afghanen da noch tun? Die Russen schicken Raketen und aus dem pakistanischen Karachi treffen große Mengen amerikanischer Munition ein“, fragt sich ein Kabuler Geldwechsler.

Seit dem Abzug des letzten sowjetischen Soldaten am 15. Februar hat der Krieg auch die Städte Kandahar, Chost und Ghasno erreicht. Die afghanische Luftwaffe bombadiert die umliegenden Mudschaheddin-Stützpunkte und die Regierungstruppen halten die 150 Kilometer östlich von Kabul gelegene Garnisonstadt Dschalalabad, von der die Rebellen noch im März glaubten, sie binnen einer Woche einnehmen zu könnnen. Die Zahl der Afghanistanflüchtlinge in Iran und Pakistan ist auf fünf Millionen angestiegen. Sechs Monate nach Erfüllung der Genfer Verträge ist noch kein Frieden in Sicht.

Und doch kommt es in einigen Teilen des Landes allmählich zu lokalen Waffenstillstandsregelungen, nachdem Präsident Nadschibullah über Fernsehen und Radio immer wieder versichert, dies sei der Weg zum Frieden, ein moslemischer Bruder brauche den anderen nicht länger zu bekämpfen, nachdem die Russen nun gegangen seien. Er selbst verspricht im Rahmen einer politischen Lösung zurückzutreten, wenn sie Frieden bringe, aber nicht wenn sie „keinem Zweck“ dient.

Im Norden Kabuls hat der Kommandant Ahmad Schah Massud in einem brüchigen Waffenfrieden Lastwagen mit Mehl, Heizöl und Munition von der sowjetischen Grenze über das Hindukuschgebirge nach Kabul passieren lassen. Verstärkt durch eine sowjetische Luftbrücke versuchen die Behörden, Kabuls Hauptgetreidesilo für den Winter aufzufüllen und die Munitionsvorräte wieder aufzustocken. Von dem radikalfundamentalisten Hekmathiar handelte sich Massud daraufhin Vorwürfe der Konspiration ein. Und am 9. Juli forderte die Fehde zwischen den rivalisierenden Mudschaheddin-Gruppen in der nördlichen Provinz Tachar 30 Todesopfer. Aus einem Hinterhalt sollen Hekmathiars Kämpfer die Anhänger der Jamaat-i-Islami Partei Burhanuddin Rabanis überfallen haben.

Am Wochenende kündigte nun die provisorische Mudschaheddin -Regierung in Pakistan die Bildung eines islamischen Gerichts an, das die Verantwortlichen bestrafen soll. Gegen das Urteil könne keine Berufung eingelegt werden, hieß es aus Peshawar. Das Massaker hat nicht nur die inzwischen sprichwörtliche Zerstrittenheit der Mudschaheddin-Fraktionen drastisch vor Augen geführt. Auch die amerikanische Afghanistanpolitik wurde dadurch einmal mehr diskreditiert. Vor einem Jahr noch hielten Hekmathiar und Rabbani in Washington gemeinsam die Hand für die fortgesetzte Bewaffnung des Widerstands auf. Unter dem Zia-ul Haq-Regime erhielt Hekmathiar den Löwenanteil der US-Hilfe. Seine Hezbi -Islami Partei galt als wohlorganisiert, pflegte enge Bindungen zu den entscheidenden politischen und religiösen pakistanischen Parteien und teilte die fundamentalistischen Ansichten des abgestürzten pakistanischen Generals. Bereits nach dem Regierungswechsel in Pakistan geriet Hekmathiar zunehmend in Mißkredit, suchten die USA auf direktem Weg die Zusammenarbeit mit den Kommandeuren in Afghanistan. Bei der Mudschaheddin-Regierung stellte sich Hekmathiar einer Integration der im Iran ansässigen schiitischen Mudschaheddin entgegen. Doch bis heute gelten seine Männer als die bestausgebildetsten Kämpfer. Sie sind es auch, die nach wie vor mit dem technisch hochwertigen Waffennachschub aus den USA umgehen können. Washington wollte den Mudschheddin in diesem Sommer noch eine militärische Chance geben. Die politische Isolation Hekmathiars macht das ehrgeizige Projekt nicht leichter.

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