Die Bevölkerung verdrängt in beiden Staaten

Deutsch-deutscher Gedenkmarsch von Buchenwald nach Dachau / Jugendliche beider deutscher Staaten auf den Spuren der KZ-Häftlinge / Gemeinden reagierten oft nicht / Resümee: Vergangenheit wird in beiden deutschen Staaten verdrängt  ■  Aus München Luitgard Koch

„Oh, das gibt's nicht“, erschrocken hält sich die 23jährige Ulrike Zoels aus Ost-Berlin die Hand vor den Mund. „Zählappell im Lager Dachau“ heißt es neben dem meterhoch vergrößerten Foto in der KZ-Gedenkstätte Dachau, zu dem die Theologiestudentin hochblickt. „Ja, auch das passiert“, versucht die 46jährige Leiterin der Gedenkstätte, Barbara Distel, beschämt den abgebildeten Kopf eines KZ-Häftlings mit ihrer Hand zu verdecken. Direkt auf der Stirn des Häftlings befindet sich ein Hakenkreuz. Ein Besucher hat es eingeritzt.

Dachau ist die letzte Station der 18 jungen Leute aus beiden deutschen Staaten auf ihrem 17tägigen Gedenkmarsch, ausgehend von Buchenwald bei Weimar. Die Mitglieder der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste und der DDR-deutschen Aktion Sühnezeichen wanderten und fuhren auf den Straßen, auf denen die KZ-Häftlinge Richtung Süden getrieben wurden. In den letzten Kriegstagen starben auf diesen Todesmärschen von einem KZ ins andere mindestens 21.000 von ihnen an Erschöpfung oder wurden erschossen. Kein KZ-Insasse, so der Befehl Himmlers, sollte lebend in die Hände der einmarschierenden alliierten Truppen fallen.

Während in der DDR auf diesen Wegen Mahntafeln an das Naziverbrechen erinnern, gibt es derartige Gedenkwege auf bundesdeutscher Seite nicht. „Wir haben 28 Gemeinden angeschrieben, aber nur acht haben sich bereit erklärt“, erzählt Barbara Distel der Gruppe auf dem Hof des Dachauer KZ. Denn auch von Dachau aus trieben die SS-Schergen die Häftlinge über die Straßen der umliegenden Gemeinden, so etwa auch durch das schmucke Starnberg. Doch gerade von dieser reichen Gemeinde kam überhaupt keine Reaktion. Mit der Begründung, sie haben bereits ein Kriegerdenkmal und eine Pestsäule, lehnten andere Gemeinden das Erinnern an diese Zeit ab. Bisher engagiert sich lediglich der CSU -Bürgermeister der Gemeinde Gauting.

„Wir aus der BRD haben sehr viel über diese Gedenkwege gelernt“, betont die 21jährige Hanna Asmussen. Doch insgesamt ist die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels deutscher Geschichte auf beiden Seiten der Grenze problematisch. Verdrängt wird bei der Bevölkerung hüben wie drüben, so das Fazit der antifaschistischen Friedensarbeiter. „Das, was 99 Prozent des deutschen Volks getan hat, das schiebt man in beiden deutschen Staaten von sich“, weiß die 23jährige Medizinstudentin Christiane Müller aus der DDR. „Bei uns wird der kommunistische Widerstand betont und damit schnell der Sprung gemacht, daß wir auf der Seite der Sieger stehen“, pflichtet ihr Ulrike Zoels bei.

Formalistisch, administrativ und von oben aufoktroyiert, so empfinden die DDR-Teilnehmer des Gedenkmarsches zum Teil die Auseinandersetzung mit dem NS-Regime in ihrer Heimat. „Wir trafen eine Menge Leute, von denen man das Gefühl hat, sie blocken ab“, berichtet der Leipziger Student Joachim Rasch. Selbst in Crahwinkel bei Buchenwald trafen sie auf DDR -Bürger, die von den KZ angeblich nichts wußten und die Häftlinge für Kriminelle hielten. Die Angst hat sie zu ohnmächtigen Zeugen dieser Verbrechen gemacht, mußten die Jugendlichen feststellen. Einen Unterschied konnten die Teilnehmer der zeitgeschichtlichen Pilgerfahrt jedoch feststellen: Die Hemmschwelle, auch jetzt noch Vorteile des Hitler-Regimes zu betonen, ist auf bundesdeutscher Seite niedriger.

Unterschiedliche Erfahrungen machten die Jugendlichen freilich auch mit der Staatsgewalt der beiden Staaten. „Im Kreis Hof hat uns die Polizei fast die ganze Zeit beschattet“, beschwert sich Hanna Asmussen. Während in der DDR von einer Beobachtung des Staatssicherheitsdienstes nichts zu merken war, sei der Gedenkmarsch auf bundesdeutscher Seite von der Polizei „mißtrauisch beäugt“ worden. Mit der Begründung „Verkehrssicherung“ folgten Polizeiautos den Marschierern selbst über den kleinsten Feldweg. Hintergrund dieser nordbayerischen Polizeiaktion waren angekündigte Demonstrationen zum Todestag von Rudolf Heß. Lange Telefonate mit der Hofer Kriminalpolizei mußten geführt werden, um den Marsch genehmigen zu lassen. Im Gegensatz dazu lief die Ausreisegenehmigung für die Mitglieder der DDR-Aktion-Sühnezeichen relativ problemlos. „Alle, für die wir ein Visum beantragt haben, durften fahren“, berichtet der 21jährige Jörg Wiesner, der als Freiwilliger der Deutschen Aktion Sühnezeichen in der KZ -Gedenkstätte arbeitet. Daß dieses deutsch-deutsche Element von der Presse teilweise in den Vordergrund gerückt wurde, störte die jungen Leute. So wollte ein Reporter der Deutschen Welle wissen, ob denn alle wieder in die DDR zurückkehren. „So'n Quatsch“, schüttelt die 35jährige Krankenschwester Irmgard Eberhard aus Dessau den Kopf. „Natürlich fahren wir alle wieder zurück.“

20 Prozent der Wähler haben im Landkreis Dachau bei den vergangenen Europawahlen den rechtsradikalen „Republikanern“ ihre Stimme gegeben. Auf einer ihrer Großveranstaltungen forderten die REPs, die KZ-Gedenkstätte endlich abzureißen. Das Thema „Republikaner“ beschäftigt auch die Gruppe. „Ich weiß nicht, ob es nicht auch bei uns ein derartiges Wählerpotential gäbe“, meint eine Teilnehmerin aus der DDR. Es sei wichtig, sich bewußt zu machen, daß auch in der DDR eine Gefahr von rechts existiere.

Die weißblaue Rautenfahne weht vor den Fenstern des Münchner Hofbräuhauses. „Hier wurde erstmals 1920 das spätere Parteiprogramm der NSDAP vorgestellt“, erklärt Gerhard Ongyerth von „Stattreisen München“ der Gruppe. Zum Abschluß haben sich die Jugendlichen an diesem heißen Sommertag noch eine alternative Stadtführung durch die ehemalige „Hauptstadt der Bewegung“ vorgenommen. „Habt ihr Lust, einen Blick reinzuwerfen? Zum Bierbestellen reicht's leider nicht“, meint ihr Reiseführer. Neugierig öffnet Ulrike Zoels die schwere Eingangstür zur „Schwemme“ im Erdgeschoß. „Und det lieben die Münchner, das ist für mich der Inbegriff von Unkultur“, schüttelt sie sich und blickt verwundert in den Bierdunst über den Köpfen.