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Wer nicht hören will, muß sterben

■ Der türkische Staat hat kein Pardon für hungerstreikende politische Gefangene / Von Ömer Erzeren

Wieviele Tausend politische Gefangene genau mittlerweile in den 14 türkischen Gefängnissen im Hungerstreik sind, ist ungewiß. Eines jedoch ist klar: Die türkische Regierung unter Ministerpräsident Özal setzt weiter auf die Politik der eisernen Faust. Vier der hungerstreikenden Gefangenen in Aydin, die seit 46 Tagen aus Protest gegen die unerträglichen Haftbedingungen jegliche Nahrungsaufnahme verweigern, liegen im Koma, 20 weitere wurden am Freitag in kritischem Zustand ins Gefängniskrankenhaus der westtürkischen Stadt eingeliefert, die von Militär und Polizei okkupiert wird. Seit Tagen wird den Protesten verzweifelter Mütter mit unglaublicher Härte begegnet. Trotz der Kritik in In- und Ausland ist der Zynismus der türkischen Regierung weiterhin ungebrochen.

Ein Mann mit akuten Durchblutungsstörungen wird von Freunden ins Krankenhaus gebracht. Doch er sucht vergeblich Hilfe im staatlichen Krankenhaus. Man verweigert ihm die Aufnahme. In der westlichen Stadt Aydin bestimmen heute Militärs und Polizei, wer ins Krankenhaus darf und wer nicht. Soldaten durchkämmen weitläufig das Gelände, die Schnelle Einsatztruppe der Polizei bildet eine Kette ums Krankenhaus. An der Hauptpforte steht drohend ein Polizist mit Maschinenpistole. Militärs und Polizei sind nicht nur im Krankenhaus, sondern in der ganzen Stadt. Kaum ein Aydiner Bürger traut sich, mit den Fremden, die seit über einer Woche hier sind und stets von Zivilpolizisten verfolgt werden, zu sprechen. Die Angst geht um in Aydin, seit die hungerstreikenden politischen Gefangenen von Eskisehir ins Gefängnis Aydin gebracht und zwei Hungerstreikende hier zu Tode geprügelt wurden.

Die 63jährige Lemam Firtina, selbst Mutter eines politischen Gefangenen und Gründungsmitglied des „Vereins für Menschenrechte“, fuhr mit 30 Rechtsanwälten und dem sozialdemokratischen Abgeordneten Mehmet Ali Eren nach Aydin. Tagelang bemühte sich die Gruppe vergeblich darum, den Staatsanwalt oder den Gefängnisdirektor zu sprechen. Mit ihren Mandanten, die seit 46 Tagen im Hungerstreik sind, zu sprechen, ist den Rechtsanwälten ohnehin verboten. „Es gibt in Aydin keinen Staat, kein Recht“, sagt Firtina. „Wir durften den abgeschirmten Justizpalast gar nicht betreten. Der Abgeordnete kam rein. Man schickte ihn aber mit dem Hinweis weg, daß der Oberstaatsanwalt im Gefängnis sei. Dann gingen wir zum Gefängnis. Ein Wächter wimmelte den Abgeordneten Eren ab. Der Staatsanwalt sei nicht da. Eine halbe Stunde später sahen wir, wie er mit seinem Auto wegfuhr.“

Nur auf Intervention des Chefarztes darf Eren die hungerstreikenden Gefangenen im staatlichen Krankenhaus besuchen. „Als Eren aus dem Krankenhaus zurückkam, war er völlig verstört“, berichtet Firtina. Eren berichtet Journalisten über seine Eindrücke: „Die Gefangenen haben ihren Lebenswillen verloren. Viele leiden unter Gedächtnisschwund. Die Folterspuren sind noch an ihrem Körper. In den Krankenhausbefunden sind die Folterspuren dokumentiert.“ Doch die Todesmaschinerie arbeitet ungebrochen weiter. Freitag mittag werden 20 weitere Gefangene vom Gefängnis ins Krankenhaus gebracht: Nesim Kilio und Saban Koral mit Magenblutungen, Serif Simen hat Blut im Urin, Sükrü Göktas mit Hirnverkleinerung, Mehmet Doruk mit Gedächtnisschwund. Ohne Ambulanz, angekettet in den berüchtigten Gefangenentransporter, werden sie ins Krankenhaus gefahren.

In Leichentücher gehüllt und schweigend verlassen rund 100 Familienangehörige das Parteibüro der Sozialdemokoraktischen Partei, um zur Justizbehörde zu ziehen. Auf den Leinwandtüchern zwei Inschriften: „Die Menschenwürde wird die Folter besiegen.“ „Wir werden nicht zulassen, daß man unsere Kinder ermordet.“ Der Zug dauert wenige Minuten. „Wegen Verstoßes gegen das Demonstrationsgesetz wurden 46 Personen festgenommen und befinden sich in Untersuchungshaft“, wird die Staatsanwaltschaft am späten Freitag melden. Nicht nur Polizei, sondern auch Soldaten stürzten sich auf die Familienangehörigen. Mit Knüppeln und Fußtritten trieben sie die Demonstration auseinander. Alte Frauen wurden an den Haaren in die Polizeiwagen gezerrt. Unter ihnen die 80jährige Makbule Balcan. „Die Kleider zerrissen, an Beinen, Armen und Rücken blaue Flecken, hockten diejenigen, denen die Flucht ins Parteibüro der Sozialdemokraten geglückt war. Kein Wehklagen, kein Heulen. Zumeist alte, arme kurdische Frauen und Männer. Sie sind die Fußtritte gewohnt“, sagt Firtina. „Sie haben die Hoffnung verloren. Sie warten nur noch darauf, die Leichen ihrer Kinder abzuholen“, berichtet Ümit Sezer. Sie verbrachte im Vergleich zu anderen nur kurze Zeit auf der politischen Polizei Aydins - während des Verhörs wurden ihr die Augen verbunden.

Bereits am 2.August hatten die Mütter der Hungerstreikenden mit Leichentüchern vor dem Justizministerium in Ankara demonstiert. „Ihr wollt unsere Kinder umbringen“, riefen die Frauen, bevor sie von der Polizei brutal auseinandergetrieben wurden. Ayse Simen brach sich dabei den Arm. Ihr Sohn ist mit Blut im Urin ins Krankenhaus eingeliefert worden. Als die Frauen in Ankara demonstrierten, wußte sie nicht, daß ihre düstere Prophezeiung Wirklichkeit werden sollte: Am gleichen Tag werden die hungerstreikenden Gefangenen Mehmet Yalcinkaya und Hüsnü Eroglu nach ihrer Verlegung ins Gefängnis Aydin am 35.Tag des Hungerstreiks ermordet.

Fast jeden Tag erscheinen in der türkischen Presse neue Informationen, die belegen, daß der Tod der beiden Gefangenen planmäßig vorbereitet wurde. 280 durch den Hungerstreik völlig entkräftete Gefangene wurden in Gefangenentransporter gepfercht. Sian Atli, einer der Gefangenen, die in einem der vielen Gefangenentransporter ins Gefängnis Nazilli gebracht werden, berichtet. Er wurde erst kürzlich entlassen. „Es war ein Bild des Grauens. Aneinandergekettete, schweißgebadete Gefangene. Erdem Kecer spuckte Blut in eine Plastiktüte. Zwischen einem Offizier und dem Arzt kam es darüber zum Streit.“ Es gibt Aussagen der Ärzte, daß sie bedroht wurden. Es gibt die Berichte der Gefangenen im Krankenhaus, daß die Wächter sie in Aydin mit Holzknüppeln und Druckwasser traktierten. Es gibt die Folterspuren am Körper der Gefangenen. Die angesehene Tageszeitung 'Cumhuriyet‘ zitiert den Befehl an die Wächter: „Schlagt die Kommunisten, die Verräter. Schlagt sie zu Tode, daß sie merken, was der Staat bedeutet.“

„Der Staat mordet Gefangene, deren Leben ihm anvertraut sind“, hatte der sozialdemokratische Abgeordnet Fikri Saglar, der vergangene Woche ergebnislos zwischen Justizverwaltung und Hungerstreikenden vermittelte, angemerkt. Die Gefangenen fordern nichts mehr als menschenwürdigere Haftbedingungen: längeren Hofgang, die Erlaubnis, jederzeit Wasser zu trinken, keine Beschränkung des Toilettengangs, keine Belauschung der Gespräche mit Rechtsanwälten, Aufhebung des täglichen Rasurzwangs und des Verbots, über politische Themen zu sprechen. Sie fordern Bücher. Daß ihre Familienangehörigen Essen bringen können, damit der Unterernährung durch den Gefängnisfraß ein Ende gesetzt wird. Und ein Ende der Folter: nach einem gut recherchierten Bericht des „Vereins für Menschenrechte“ zur Situation in den türkischen Gefängnissen ist das Aufessen von Ratten und Waschpulver eine der Strafmaßnahmen.

Für Justizminister Oltan Sungurlu sind Hungerstreiks mit solchen Forderungen „revolutionärer Kampf“. Mit Zwangsmitteln und Gewalt gilt es, diesen Hungerstreik zu rächen. Sowohl Justizminister als auch Ministerpräsident Özal suggerieren, daß es sich bei den Hungerstreikenden um Menschen zweiter Klasse handelt. „Niemand fragt, wieviele Leute diese Menschen umgebracht haben. Wer sich nicht behandeln lassen will, stirbt eben“, sagte Özal nach einer Vorstandssitzung der regierenden Mutterlandspartei. Staatslogik: Mitglieder der kurdischen PKK, Anarchisten, Terroristen - minderwertiges Leben. Der tote Hüsnü Eroglu saß übrigens in Untersuchungshaft.

Terroristen sind jene, die die Militärdiktatur nach 1980 zu „Terroristen“ erklärte. Mit den Geständnissen, die unter Folter erpreßt waren, wurden nach dem Putsch Tausende in Kriegsgerichtsprozessen zum Tode oder zu langen Haftstrafen verurteilt. Der gewählte Bürgermeister der größten kurdischen Stadt Diyarbakir, der mit Panzern abgesetzt wurde und seit neun Jahren in Haft sitzt, ist einer der Hungerstreikenden in Aydin. „Wer seinen Aufgaben der Nation gegenüber nicht nachkommt, hat den Anspruch auf Menschenrechte verwirkt“, sagte der Putschistengeneral und jetzige Staatspräsident Kenan Evren am 8.Oktober 1983 in einer Rede in Mugla. Die Regierung Özal scheint den Gedanken dankbar aufzugreifen.

Doch die türkische Öffentlichkeit spielt nicht mit. „Die Mörder müssen zur Rechenschaft gezogen werden“, forderten türkische Tageszeitungen in ihren Schlagzeilen. Oppositionspolitiker sprachen von „Barbarei“ und erneuerten ihre Forderung nach einer Generalamnestie. Etliche Berufsverbände und Gewerkschaften fordern den Rücktritt des Justizministers. „Wir haben in Aydin ein Gefängnis vorgefunden, das einem KZ gleicht“, stellte der Vorstand der Izmirer Anwaltskammer fest. Tagtäglich erscheinen in den Zeitungen Dutzende Solidaritätsbekundungen mit den hungerstreikenden politischen Gefangenen in Aydin. Doch das Morden geht weiter.

Eine vierköpfige Kommission der türkischen Ärztekammer waren die letzten, die die hungerstreikenden Gefangenen im Krankenhaus von Aydin besuchen konnte. Allesamt honorige Professoren unter Leitung des Vorsitzenden der Ärztekammer, Professor Kurthan Fesek. Sie stellten an den Körpern der Gefangenen Schlagwunden und Prellungen fest. „Obwohl die Gefangenen nach Zucker und Salz verlangen, wird es ihnen verweigert. Auch die Ärzte werden daran gehindert, den Hungerstreikenden Zucker und Salz zu geben“, konstatieren die Ärzte in ihrer Erklärung. „Wir haben festgestellt, daß die Ärzte im Krankenhaus die Gefangenen nur untersuchen können, wenn die angekettet sind. “

Binnen kurzer Zeit verliert man in diesem Land das Verhältnis zu Zahlen. Solidaritätshungerstreiks: Gefängnis Diyarbakir - 506 politische Gefangene am elften Tag, Gefängnis Gaziantep - 237 politische Gefangene am neunten Tag, Gefängnis Malatya - 121 politische Gefangene am achten Tag, Gefängnis Ceyhan - 200 politische Gefangene am achten Tag... Die Liste ist nicht vollständig.

Eine Bekannte kommt vom Istanbuler Zentralgericht. Die elf Feministinnen, die am Freitag in Istanbul in schwarzen Kleidern gegen die Haftbedingungen in den Gefängnissen demonstrierten und festgenommen wurden, sind dem Haftrichter vorgeführt worden. Gegen alle erging Haftbefehl. Eine gemeinsame Freundin ist unter ihnen. Nicht der Rede wert: Normalität.

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