Alle warten - nix passiert

■ Dem 13. August zollten die Ostberliner mit wenig Aktion und viel gelebter Langeweile Tribut / Vor dem Brandenburger Tor hielten sich die Anwesenheit von Stasi und kritischen DDR-Bürgern die Waage / Enttäuschte Voyeure setzten sich ins Cafe „Kisch“ ab

Das Brandenburger Tor als der neue Ostberliner Schwulen -Treff? Die Vermutung liegt auf der Hand. Etwa 60 Männer stehen in kleinen Grüppchen gelangweilt vor den Absperrungen. Der modische Einheitslook: Frischgewaschene Jeans, Sandalen Marke VEB Einheitstreter, kleinkarierte Hemden mit frischgestärkten Kragen, die beigefarbene Jacke lässig über die Schulter gehängt. Obenherum herrscht die Kurzhaar-Frisur mit Seitenscheitel vor.

Auffällig sind nur die durchweg grimmigen Gesichter sowie das äußerst wortkarge Gebaren dieser Herrschaften, die sich wie zum Frühschoppen am sonnigen Sonntagmorgen zusammengefunden haben. Da weder Freibier noch Bigband weit und breit zu sehen sind, muß der Grund für den männlichen Gruppenprozeß vor dem Tor zum Westen wohl ein besonderer sein. „Hier stinkts doch vor lauter Stasi!“ grummelt ein junger Bartträger, der sich wie zufällig in den Haufen seiner gleichgeschlechtlichen Mitmenschen verirrt hat. Durch sein langes wallendes Haar sowie die geflickten Levis-Jeans fällt er auf Anhieb aus der Rolle, zumal der jugendliche Querulant durch eine bemerkenswerte Auffassungsgabe glänzt. Tatsächlich steht sich an diesem Tag nicht die sozialistische Gay-Szene die Beine in den Bauch, sondern Honeckers Staatssicherheitsbeamte. „Die erkennt man doch auf drei Meilen gegen den Wind“, erklärt eine junge Blondine, die ebenfalls an diesem Morgen den Weg zum Grenztor gefunden hat. Mit Freund und Kind versucht sie zusammen mit weiteren „Zaungästen“ den Stasi-Trupp zahlenmäßig zu übertrumpfen. Das Resultat: ein ständiges Kommen und Gehen von etwa fünfzig bis achtzig Ostberlinern, die dem Anschein nach nichts besonders Wichtiges am Brandenburger Tor zu erledigen haben. „Mal gucken, was hier diesmal los ist“, erklärt ein Mittfünfziger seine Anwesenheit. Und damit scheint er auch für die anderen „Tor-Pilger“ zu sprechen. Zwar erwartet keiner, daß sich das Tor zum Westen urplötzlich öffnet, aber wenigstens ein paar sogenannte „Grenzzwischenfälle“, wie sie sich doch an diesem Tag häufig abspielen, will man hautnah miterleben. Einziges Problem: - nichts passiert.

Im nahegelegenen Cafe „Kisch“ herrscht derweil Hochbetrieb. Vom ereignislosen Herumstehen müde geworden, kehrt hier ein, wer am Brandenburger Tor den Kaffee vermißt hat. Als ein jugendlicher Heavy-Metal-Fan, der gerade zwei Stunden vor dem Monument verbracht hat, erfährt, daß am Vormittag eine Jugendliche einen fliegenden Teppich vor den VoPs ausgebreitet hat, fühlt er sich um seine Sensationslust geprellt. „Immer passiert was, wenn ich nicht dabei bin“, beschwert er sich. „Wir gehen noch mal gucken“, beschließt der Schüler zusammen mit seinem Freund und macht sich erneut auf den Weg zum „Stand-in“ seiner Mitbürger. An der Schwingtür vom „Kisch“ stoßen die beiden „Slayer„-Fans fast mit einem Pärchen zusammen, das ebenfalls der Kaffeedurst hierhertreibt. Fix auf die freigewordenen Plätze gesetzt, bestellen die beiden Eis und Kaffee und machen ernste Gesichter. „Wenn's nach mir gegangen wäre, hätten wir ruhig noch etwas dableiben können“, meckert die etwa zwanzigjährige Trenchcoatträgerin an ihren Freund gerichtet. Auch sie haben einige Stunden dem Stasi vor dem Prunktor Gesellschaft geleistet.

Pech für die enttäuschten Grenzspaziergänger im Cafe „Kisch“: Während sie Langeweile und Frust mit Eiskaffee und Käsekuchen herunterspülen, sammeln sich vor der Ständigen Vertretung der BRD tatsächlich fünfzig Demonstranten und schaffen es, bis vor das Brandenburger Tor zu marschieren. Eine Stunde später ist von der Spontan-Demo kaum noch etwas übriggeblieben. Nur ein alter Linienbus voller VoPos und ein paar zertretene Rosen am Boden sind zu sehen. Nach wie vor stehen rund fünfzig Ostberliner sowie ebensoviele Stasi -Beamte vor dem Tor und scheinen auf irgend etwas zu warten. Für Abwechslung sorgen nur die knatternden Reisebusse mit japanischen, ungarischen und polnischen Touristen, die ungeachtet des Fotografierverbots ihre Kameras auf die VoPos vor dem Brandenburger Tor anlegen und vergnügte Gesichter machen. „Da kommen ja immer mehr Bullen!“ schreit ein kleines Mädchen frech, als wieder einmal ein Trabi -Streifenwagen vor dem Brandenburger Tor die Kurve kratzt. Unter fröhlichem Gelächter über die vorwitzige Bemerkung wird die Kleine von ihrem Vater eilig an die Hand genommen. Als vier VoPos auf Fahrrädern das Brandenburger Tor passieren bricht die Menge in johlendes Gelächter aus. „Umweltschützer, daß ich nicht lache!“ brüllt jemand, andere machen Fotos von dem pedalisierten Quartett, dem ein besonders dickes Exemplar von Polizistin in engem Mini-Rock angehört.

Das geht den anwesenden VoPos denn doch zu weit. Majestätisch schreiten sie von Bürger zu Bürger und werfen intensive Blicke in deren Papiere. Hernach werden diese aufgefordert, den Streifen vor den Grenzabsperrungen freizumachen. „Wir leisten doch nicht dem Stasi Gesellschaft“, beschwert sich eine Frau, die mit Kind und Kegel angerückt ist. Die ungeliebten Staatssicherheitskreaturen haben sich an beiden Seiten der Straße Unter den Linden und auf der Mittelinsel aufgebaut. Sauer über die Polizei-Schikane sind auch die drei skatspielenden Kuttenträger, die es sich auf einigen Blumenkübeln vor den Grenzabsperrungen bequem gemacht hatten. Sie überlegen kurz, ob sie das Spiel unter Stasi -Aufsicht weiterführen sollen, entscheiden sich dann aber doch dafür, ihre „Böcke“ zu besteigen und MZ-mäßig davonzuröhren.

Der motorisierte Nachschub läßt nicht lange auf sich warten. Kurz nachdem das Kuttentrio davongebraust ist, fährt eine fünfhelmige Motorradgang vor, dreht vor den Absperrungen eine schneidige Runde und parkt vor den Stasi -Grüppchen ein, die es sich mittlerweile in den Gartenstühlen auf der Mittelinsel bequem gemacht haben. „Is ja gar nischt los hier!“ meint einer der Zweiradfahrer und blinzelt irritiert in die Sonne. Die „total tote Hose hier“, mit der auch einer seiner Kumpel die Situation treffend beschreibt, scheint indes kein Argument dafür zu sein, das Weite zu suchen. Vier Stunden lang sitzen die fünf im Halbkreis unter den Linden. Einzige Beschäftigung: einen der begehrten Stühle zu ergattern. Gegen zehn Uhr abends - die VoPos wollen anscheinend Feierabend machen - werden dann auch ihre Papiere unter die Taschenlampe gehalten: Eine indirekte Aufforderung, gefälligst zu verschwinden - was die Motorrad-Gang wenig später auch unter lautem Zweitakter -Geheul befolgt. Gegen 23 Uhr ist der Platz vor dem Brandenburger Tor nahezu leergefegt. Der 13. August ist ohne besondere Ereignisse über die Bühne gegangen. „Was soll denn bloß immer dieser ganze Rummel um den Mauerbau?“ wütet wenig später ein junger Fotograf in einer Kneipe im Prenzlauer Berg. „Die Scheiße ist doch hier jeden Tag die gleiche, da ist der 13. August auch nichts Besonderes mehr!“.

cb