Das neue Paris rückt immer näher

In den alten Stadtteilen von Paris blühen Spekulation und Hausbesetzungen / Kein Pathos politisch motivierten Widerstands bei den „squatteurs“: In Belleville bleibt jeder für sich / Bürgermeister Chirac dreht Familien das Wasser ab  ■  Aus Paris Alexander Smoltczyk

Es ist eines der Pariser Viertel, in denen auch am Nationalfeiertag nur bunte Wäsche geflaggt wird - und die ist nicht immer blau-weiß-rot. Safrangelb sind die Tücher, die die Frauen aus Mali und dem Senegal um ihre schweren Körper hängen, wenn sie mit Gör am Rücken und Wasserkarren durch das Quartier des Pyrenees ziehen. Sammler sind hier zu sehen, die ihre Einkaufswagen, mit Teppichresten und Kartons beladen, krachend übers Pflaster stoßen - „Sapeure“, die ihr Verdienst in teure Anzüge und sich zu acht in die Mansarden des nächsten Arbeiterwohnheims stecken. Belleville - schöne Stadt.

Doch, ach, die Zeit passiert sehr schnell in diesem Fleck Paris. Sadjid Wa'iss weiß davon ein Lied zu singen: „Neulich nacht hatte ich ein wunderschönes Haus in der Rue de Crimee besetzt, schleppte meine Sachen hinein, schloß ab - und als ich am nächsten Abend wiederkam, war kein Haus mehr da. Nichts! Alles abgerissen und weggeschafft.“ Der Bürgermeister von Paris würde es anders ausdrücken: Wieder ein Schritt in Richtung auf „die großen Projekte des Ostens“ - so steht es jedenfalls stolz auf unzähligen Pariser Schautafeln, mit denen die Mairie den Bewohnern von Belleville schmackhaft machen möchte, daß sie Großes mit ihnen vor hat. Wa'iss‘ nächstes großes Projekt war erst einmal der Umzug in die Rue de la Mare, einem weiteren Schauplatz der Besetzerszenerie von Belleville.

Seit die Stadtverwaltung den besetzten Häusern der Straße das Wasser abgestellt hat, ist der Hydrant vor der Nummer 36 zum Treffpunkt eines Völkergemischs geworden, das von dem Lifting der alten Stadt Belleville zur Yuppie-City nichts zu erwarten hat: Mit ihren selbstgebauten Wasserkarren aus Plastikkanistern stehen hier Familien aus Mauretanien, Mali, Senegal neben der französischen Rentnerin, die in der Rue de la Mare geboren wurde, neben Clochards und Kleinstdealern ohne Papiere wie Wa'iss, der an der Sorbonne die schönen Künste studierte und heute „drei Regierungen auf dem Hals“ hat: die des Vaters (Senegal), der Mutter (Mauretanien) und des heiligen Nationalgeistes Frankreich. Er lebt von den Touristen am Centre Pompidou und werkelt als Faktotum in der Nummer 36. Es gibt viel zu tun, vom Stromabzapfen bis zum Korrumpieren des örtlichen Flics - letzteres sei die einfachere Aufgabe, meint Wa'iss. Ungefähr dreißig Menschen wohnen, ohne Miete zu zahlen, in den diversen An-, Auf- und Nebenbauten im Hinterhof des Hauses. Keiner weiß genau, wieviele, weil jede Nacht neue kommen, alte gehen. „Ich sage den Afrikanern nur bonjour - sonst nichts“, grummelt ein Algerier, der in seinen Anzug gekrümmt neben der Mülltonne sitzt und nach jedem Satz in den Rinnstein spuckt. Solidarität herrsche nur zwischen Leuten „mit gleichen Gewohnheiten“, spuckt er aus. Die Afrikaner gehen zum Essen ins „Foyer africain“ beim Park Buttes Chaumont, wo abwechselnd Senegalesinnen und Mauretanierinnen in großen Bottichen kochen. Algerier würden da nicht hingehen.

Im „Ghetto“, wie diese besetzten Häuser hier genannt werden, bleibt jeder für sich allein. Irgendwann wird geräumt werden, keiner weiß wann. Dann werden die alten Mieter umgesetzt, die anderen suchen sich neue Ghettos. Hier in der Rue de la Mare wächst kein Pathos des Widerstands, von Gefühl und Härte. Staatsgewalt wird zur Kenntnis genommen: „Wenn geräumt wird, dann ziehen wir weiter. Ich bin anti-politisch. Politik ist Schachern um Macht, nichts für mich“, sagt Wa'iss, der Rasta.

Doch Räumungen stehen bislang nicht an, obwohl die gaullistisch regierte Stadt Paris darauf drängt. Weil in der Stadt zuviele kinderreiche Familien in besetzten Häusern leben, hat der Polizeipräfekt, der dem sozialistischen Innenminister untersteht, vorläufig ein Veto eingelegt - ein kleiner parteipolitischer Aufschub oder Anzeichen, daß die Wohnungspolitik in der Hauptstadt ein zu heißes Eisen ist und die Regierung unpopuläre Maßnahmen scheut?

Auf alle Fälle ist die Wohnungssituation in Paris katastrophal. Seit sich die Stadt in den Wasserkopf gesetzt hat, die Kapitale EG-Europas zu werden, seit die Börse den Londoner Big Bang zu kopieren sucht und Kapital an die Seine fließt, und seit schließlich das „Gesetz Mehaignerie“ von 1986 die Mieten bei Neuabschluß des Vertrags praktisch freigibt, blüht die Immobilienspekulation wie zu Zeiten des französischen Second Empire. Die Mieten haben sich in den letzten zehn Jahren verdreifacht, bei steigender Tendenz. Für eine lausige Dienstbotenkammer muß der Schreiber dieser Zeilen 35 Mark pro Quadratmeter hinlegen. Als er im Pariser Kommunalwahlkampf stand, sprach Innenminister Pierre Joxe gar von „400.000 Parisern, die in den nächsten Jahren zur Emigration gezwungen“ würden. Belleville mit seiner Nähe zur Innenstadt und den unzähligen niedriggeschossigen Häusern, die teilweise noch die Commune von 1871 erlebt haben, ist dabei der Hauptgegenstand spekulativer Begierde: Ganze Straßenzüge des Viertels wurden aufgekauft, abgerissen und mit Beton aufgefüllt, die Mieter, sofern sie sich diesen Fortschritt nicht leisten konnten, in die Banlieue umgesetzt - vor den Toren des neuen Paris.

Dazu kommt, daß die Stadt Paris immer weniger mietpreisgebundene Sozialwohnungen (HLM) bauen läßt und die wenigen HLM, die es gibt, „in der Regel willkürlich“ vergibt - so die Sektion Belleville der Gewerkschaft CFDT. Erst vergangene Woche wurde 21 Familien mit 92 Kindern das Wasser abgestellt, weil sie sich weigerten, einen neuerrichteten HLM-Block zu verlassen, den sie im Januar besetzt hatten. Die Straße, in der dieses Meisterstück von Stadtmonarch Chirac stattfindet, heißt übrigens „Fontaine-au-Roi“ Königsbrunnen.

Nach der Sommerpause sollen nun diverse Projekte ausgebrütet werden. Premier Rocard wird einen Regionalentwicklungsplan in Auftrag geben, der die Banlieue aufwerten soll. Wohnungsbauminister Louis Besson plant, die maximale Mietsteigerungsrate an die Preise im Baubereich anzugleichen.

All dies ist löblich, wird aber die Räumungen in der Rue de la Mare und den einigen Dutzend anderen Pariser „Squats“ nicht verhindern. So wird Wa'iss sich bald wieder dort einfinden, wo sich die aktiv Wohnungssuchenden treffen: dort, wo Belleville am höchsten ist, im Park der Buttes Chaumont. Von hier oben, wo schon der Balladendichter Fran?ois Villon herumstrolchte, kann man am besten sehen, wo die Baukräne in Belleville stecken und wie es immer näherrückt, das neue, das mondäne Paris.