Reise und Ausreise

Im November 88 erließ die DDR zum ersten Mal eine umfassende „Verordnung über Reisen von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nach dem Ausland“. Das Gesetzespaket war in der DDR mit großer Spannung erwartet worden. Ihre Bürger erhofften sich von ihr vor allem mehr Rechtssicherheit vor bürokratischer Willkür und eine Erweiterung der Zahl der Antragsberechtigten. Erstmals wurden Reise- und Ausreiseangelegenheiten in einer einzigen Verordnung geregelt. Dies deutete zunächst darauf hin, daß die Regierung die Ausreisewilligen etwas humaner behandeln wollte als zuvor. Durch die Gleichstellung mit Reiseantragstellern werden sie seitdem nicht mehr offiziell isoliert.

Der Paragraph „Ständige Ausreise“ enthält in einer Generalklausel außerdem die Formulierung: „Ständige Ausreisen können auch aus anderen humanitären Gründen genehmigt werden.“ Die Handhabung dieser Regelung unterliegt aber weiterhin Kann-Bestimmungen, die von den Behörden nach eigenem Gutdünken ausgelegt werden können. Allerdings müssen die „Versagungsgründe“ in beiden Fällen - bei Reise- und Ausreiseantragstellern - jetzt schriftlich mitgeteilt werden.

Zudem sind Bearbeitungsfristen eingeführt, und das „Rechtsmittel der Beschwerde“ ist erstmals eingeräumt worden. Verwaltungsentscheidungen können ab 1.Juli 89 zwar gerichtlich geprüft werden, doch hat die DDR noch keine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit geschaffen.

Andererseits hat der Staat mit der neuen Verordnung auf Forderungen der Bürger nach mehr Mündigkeit reagiert. Die juristisch fixierten Ablehnungsgründe und die detaillierte Auflistung derjenigen, die reisen dürfen, erwies sich im nachhinein in einigen Fällen als Verschlechterung gegenüber der zuvor üblichen Praxis. Seit der letzten weitgefaßten Verordnung 1986 hatten die örtlichen Behörden nämlich über einen relativ großen Ermessensspielraum verfügt. So waren Besuche unabhängig vom Verwandschaftsgrad auch „bei besonderen humanitären Anlässen“ möglich. Die gesetzliche Fixierung sah dies nicht mehr vor. Eheleute konnten nach dieser Verfügung nicht mehr gemeinsam in den Westen fahren. Besuche bei Verwandten zweiten Grades der Ehepartner waren im Gesetz nicht vorgesehen.

Wegen des großen Unmuts in der Bevölkerung erließ die DDR zum 1.April dieses Jahres eine Ergänzungsverordnung. Derzufolge können Ehepaare unterhalb des Rentenalters weiterhin nicht gemeinsam reisen. Allerdings darf eine DDR -Bürgerin wieder auch den Geburtstag der Ehefrau des Onkels ihres Ehemannes für eine Westreise zum Anlaß nehmen. (Zum Trost, liebe LeserIn: Auch drüben blickt da so mancher nicht mehr durch.)

In einer internen Parteiinformation der SED heißt es zu den Reiseregelungen dagegen in aller Klarheit, es müsse Aufgabe der Partei sein, „Klarheit darüber zu schaffen, daß der Mißbrauch von Reisen zum Verlassen der DDR kein 'Kavaliersdelikt‘ ist, sondern daß damit Verrat an der Heimat geübt wird“.

khd