Opposition in der DDR formiert sich Die Flüchtlingswelle rollt weiter

■ Organisierte Sammelbewegung will zu den nächsten DDR-Volkskammerwahlen antreten / Großbritannien und die USA schließen ihre Botschaften in Ost-Berlin / Noch mehr DDR-Bürger verlassen Ungarn Richtung Österreich / Kohl schrieb an Honecker

Berlin (taz) - In Ost-Berlin formiert sich eine Opposition, die als konkrete Alternative bei den nächsten Wahlen zur Volkskammer auftreten will. Der Physiker Hans-Jürgen Fischbeck rief am Sonntag abend vor etwa 400 Menschen in der Ostberliner Bekenntnis-Gemeinde zur Gründung einer einheitlichen Sammlungsbewegung auf. Die Organisation soll den Dialog in der Öffentlichkeit führen, nicht nur in der Kirche. Ziel ist die Teilnahme an den nächsten Wahlen zur DDR-Volkskammer in zwei Jahren. Daß es gerade jetzt zum öffentlichen Aufruf kam, liege wesentlich an der Ausreisebewegung, die Veränderungen in der DDR behindere.

Die Situation der in westliche Vertretungen geflüchteten DDR-Bürger hat sich gestern weiter verschärft. Nach Schließung der bundesdeutschen Vertretungen in Ost-Berlin und Budapest machten auch die Botschaften Großbritanniens und der USA in Ost-Berlin ihre Pforten dicht. So sollen mögliche Besetzer abgeschreckt werden. Weitere fünf der in der Bonner Ständigen Vertretung Geflüchteten haben das Gebäude am Sonntag abend verlassen.

In Budapest bemühte sich derweil der bundesdeutsche Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Jürgen Sudhoff, in Gesprächen mit dem ungarischen Außenminister Gyula Horn um eine humanitäre Lösung für die in der dortigen bundesdeutschen Vertretung festsitzenden DDR-Aussteiger. Einzelheiten wurden nicht mitgeteilt. Sudhoff sprach auch mit den 181 DDR-Bürgern in der Botschaft. Es komme ihm darauf an, Lösungen nicht nur für die Flüchtlinge in der Botschaft, sondern auch für die vielen tausend DDR-Bürger in Ungarn zu finden. Eine Lösung auf Grundlage der UN -Flüchtlingskonvention, wonach die DDR-Bürger Asyl beantragen könnten, lehnte die ungarische Seite gestern ab.

Die Bundesregierung wird den Hohen Flüchtlingskommissar der UNO in Genf bitten, eine weitere Delegation nach Budapest zu schicken. Sudhoff kehrte noch gestern ohne greifbare Ergebnisse nach Bonn zurück.

Die Flüchtlingswelle von DDR-Bürgern nach Österreich rollte auch gestern unvermindert weiter. Über 200 Aussteiger erschienen am Wochenende in der bundesdeutschen Botschaft, mehr als 100 warteten gestern vor der Vertretung. 471 DDR -Bürger wurden in Ungarn beim Versuch, die Grenze zu überschreiten, festgehalten.

Schon letzten Freitag hat sich Bundeskanzler Kohl in einem Schreiben direkt an DDR-Staats- und Parteichef Honecker gewandt, um eine diplomatische Lösung des Flüchtlingsproblems voranzubringen. Erich Honecker antwortete bisher nicht.

In einem im 'Spiegel‘ abgedruckter Brief richteten sich 33 der Besetzer der Ostberliner BRD-Vertretung an die Bundesregierung. Sie lebten mit nur zwei Toiletten. Die Bundesregierung setze sich nicht genügend für sie ein. „Wir bitten nicht - wir fordern, daß sich in der deutschen Öffentlichkeit etwas tut, um uns davor zu schützen, daß wir wieder in die Zone abgeschoben werden“, heißt es in dem Brief. Die restlichen 100 Botschaftsbesetzer sind nun „empört und betroffen von dem Bericht der 33. Man lebe zwar beengt, aber nicht unter menschenunwürdigen Bedingungen, heißt es in dem vom Auswärtigen Amt in Bonn veröffentlichten Schreiben.

Erich Honecker hat den Sozialismus gegen Kritik aus dem Westen verteidigt. Mit den Leistungen der wissenschaftlich -technischen Revolution und dem Ausbau der Sozialpolitik in der DDR werde bewiesen, „daß das Triumphgeschrei westlicher Medien über das 'Scheitern der sozialistischen Gesellschaftskonzeption‘ nicht das Geld wert sei, das dafür ausgegeben werde“. Die alte Erkenntnis der deutschen Arbeiterbewegung, den Sozialismus in seinem Lauf halte weder Ochs noch Esel auf, finde durch die große Initiative der Werktätigen in der DDR ihre aktuelle Bestätigung.

In der DDR soll dem SED-Zentralorgan 'Neues Deutschland‘ zufolge die Rechtssicherheit für den Bürger vergrößert werden. Das Blatt kündigte am Montag eine Nachbesserung des seit 1.Juli geltenden Gesetzes über die Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen an.

klh/beba