Als Reaktion auf die Ausreisewelle: Bisher sind die vielfältigen Gruppen der DDR-Opposition noch keine ernstzunehmende Gegenmacht

Die Krise des Systems enthüllt auch die Unzulänglichkeit seiner Opposition: Die „Szene“ in der DDR hat nicht nur immer mehr Schwierigkeiten, unter dem Dach der Kirche zu agieren - sie fängt auch jetzt erst an, aus Zersplitterung, Sektierertum und gesellschaftlicher Isolation herauszukommen. Ein Versuch, bis zu den nächsten Wahlen in zwei Jahren eine Alternative zur SED zu schaffen, wurde am Sonntag abend in einer Ostberliner Kirche gestartet.

Die DDR steckt in der tiefsten Krise seit dem Mauerbau. Zwischen einer und zwei Millionen Menschen - so die jüngsten Schätzungen - wollen in den Westen. Was da wegbricht, sind nicht mehr die Rentner, die man gerne ziehen lassen würde, sondern junge, gutausgebildete Nachwuchskräfte. Auch eine Ökonomie mit weniger Modernisierungslücken und Ineffizienz könnte diesen Aderlaß kaum verkraften.

Düsterer noch sieht es mit der ideologischen Legitimation aus. Die stereotypen Parolen von der Überlegenheit des Systems werden in der Bevölkerung nur noch bitter-ironisch kommentiert. Dem Rechtfertigungsdruck, forciert durch die Reformen im Osten, begegnet die Partei mit einer Ignoranz, die der Bevölkerung fast nur die Wahl läßt zwischen Flucht in den Westen oder Resignation - Sicheinrichten in der alltäglichen Misere aus Versorgungsengpässen, verdreckter Umwelt, bürokratischer Willkür und politischer Bevormundung.

Wo die Krise so offensichtlich wird, ist Opposition programmiert. Doch auch hier markiert die DDR die Ausnahme von der osteuropäischen Regel. Die einzige oppositionelle Massenbewegung bleibt bislang noch die nach Westen. Wenn ein gesellschaftspolitisches Kalkül der SED aufgegangen ist, dann ist es die Verhinderung einer organisierten, in der Bevölkerung verankerten Gegenmacht. Doch auch dieser „Erfolg“ des Regimes ist nicht hausgemacht, keine bloße Folge von Überwachung und Repression. Neben der allgegenwärtigen Parteikontrolle in den Betrieben und einem überdimensionierten Staatssicherheitsdienst spielt der Westen als Auffangbecken für Andersdenkende die zentrale Rolle bei der Befriedung der DDR-Gesellschaft.

Mit der Abschiebung oder Vertreibung von Kritikern aus der Kulturszene seit Mitte der 70er oder Mitgliedern aus den Friedens- und Menschenrechtsbewegung seit Beginn der 80er Jahre gelang es dem System, das Netz persönlicher und organisatorischer Beziehungen immer wieder zu durchlöchern und das oppositionelle Potential personell und programmatisch auszudünnen. Die Folgen bringt Reinhard Schult, („Kirche von unten“) auf den Punkt: „Die Opposition in der DDR ist heute programmatisch genauso blaß wie die Partei.“

Kein Zusammenhang

Ein personeller oder theoretischer Zusammenhang, der etwa von den oppositionellen Tauwetteransätzen Mitte der 50er Jahre über die sozialistische Systemkritik von Havemann und Biermann bis hin zu den heute aktuellen Ansätzen der Menschenrechts- und Ökologiebewegung reichen könnte, existiert nicht. Was sich seit Beginn der 80er Jahre an oppositionellen Zusammenhängen etablierte, ist im wesentlichen Neubeginn. Aufgrund der staatlichen Kontrolle ist die Opposition bislang nicht in der Lage, sich eigenständige Institutionen zu schaffen. Die vielfältigsten Gruppen agieren unter dem Dach der Kirche, ihre Publikationen und Materialien tragen den Vermerk: „Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch.“ Die Entstehung und die politische Praxis dieser Gegenszene wäre ohne die Unterstützung der Kirche so kaum denkbar gewesen.

Doch die Liaison zwischen Opposition und Kirche ist mittlerweile nach allen Seiten hin problematisch: Der Staat setzt die Kirche zunehmend unter Druck, sich auf ihre vermeintlich unpolitisch-seelsorgerischen Aufgaben zu beschränken. Die Kirche ihrerseits - an einer möglichst reibungslosen Zusammenarbeit mit dem Staat interessiert versucht ihren oppositionellen Nachwuchs in tolerablen Bahnen zu halten. Doch der Aufbau unabhängiger Organisationen ist bislang nirgends ernsthaft versucht worden.

Daß der Staat alles tun wird, oppositionelle Strukturen außerhalb der Kirche mit allen Mitteln zu verhindern, ist keine gewagte Prognose. Doch daß es bislang - weder in institutioneller noch programmatischer Hinsicht - eine gemeinsame Plattform gibt, hängt auch mit der bisherigen Praxis der bestehenden Initiativen zusammen. Jede Form der Institutionalisierung wird leicht als undemokratischer Hierarchisierungsversuch verdächtigt; Abgrenzung - als Charakteristikum „des Systems“ kritisiert - ist ein bestimmendes Moment auch der oppositionellen Politik; die Rigidität, mit der abweichende Haltungen, Einschätzungen oder Aktionen kritisiert werden, erinnert an linkssektiererische Fehden der frühen 70er Jahre in der Bundesrepublik.

Darf es gemeinsame Aktionen mit den sogenannten „Ausreisern“ geben? Haben die nach dem 17.Januar 1988 (der Rosa-Luxemburg-Demonstration) abgeschobenen Kritiker ihren revolutionären Anspruch verspielt? Soll die Opposition Kandidaten zur Kommunalwahl aufstellen, mit Nein stimmen oder sich enthalten? - Über solche Fragen gab es zum Teil erbitterte Auseinandersetzungen, Minderheitenpositionen wurden ausgegrenzt, Abweichler mit Ausschluß belegt.

Solche Praktiken sind selbst noch Resultat der unterentwickelten gesellschaftlichen Demokratisierung der DDR. Die Gruppen agieren in Nischen und sind von der Bevölkerung weitgehend isoliert. Die Resonanz, die die Gruppen aus der Gesellschaft erfahren, ist zu gering, um eine relevante gesellschaftliche Größe darzustellen. Auch die osteuropäische Entwicklung konnten die Gruppen nicht dazu nutzen, eine Reformdiskussion zu initiieren, die über den Rahmen der Oppositionsszene hinausreicht.

Nachdem sich die Opposition lange in ihrem Ghetto eingerichtet hatte, gibt es in jüngster Zeit Versuche, die eigene Isolation selbstkritisch zu überdenken. Bislang krankte die Szene gerade an ihrer allzu optimistischen Selbsteinschätzung. Die Tatsache, daß sich unter DDR -Bedingungen überhaupt systemkritische Ansätze entwickeln konnten, war manchem Aktivisten schon Erfolg genug.

Organisatorischer Schub

Daß Ansätze zu erfolgversprechenden Aktionen - etwa zu den Kommunalwahlen - im Sande verliefen, zumindest aber das Regime nicht ernstlich unter Druck setzen konnten, löste jedoch nicht nur Frustrationen aus. Gerade weil die Oppositionsszene aus „notorischen Dableibern“ besteht, die um jeden Preis in der DDR für Reformen arbeiten wollen, könnte die jüngste Krise für einen neuen Oppositionsschub genutzt werden.

Der muß auf organisatorischer Ebene stattfinden. Die Vielfalt der existierenden Initiativen ist ein Reservoir kritischen Denkens, ihre Aktionen können Katalysator für zukünftige Reformen sein - aber eine übergreifende oppositionelle Organisation können sie nicht ersetzen. Nur wenn es den DDR-Kritikern, die nicht dem Drang nach Westen erliegen, gelingt, eine Alternative zum Regime ins gesellschaftliche Bewußtsein zu rücken und die grassierende Unzufriedenheit in politischen Druck umzusetzen, gibt es eine Reformperspektive. Der Aufruf zu einer DDR-weiten Sammlungsbewegung für die gesellschaftliche Erneuerung vom Sonntag könnte sich als Initialzündung erweisen.

Matthias Geis