Ein Groys-liches Gebräu

■ Boris Groys‘ These, Stalin sei die Erfüllung der Träume der russischen Avantgarde, stößt bei unserer Rezensentin auf Widerspruch

Marie-Luise Bott

Der Essay Gesamtkunstwerk Stalin des 42jährigen Exilrussen Boris Groys ist ein Ärgernis. Und das nicht einmal so sehr wegen seiner frivolen These, die da lautet: Der Stalinzeit sei gelungen, wovon die russische Avantgarde immer geträumt, was sie letztlich aber nicht erreicht habe, nämlich das gesamte gesellschaftliche Leben nach eigenem Entwurf umzugestalten und einem Schöpferwillen zu unterwerfen. Stalin als Vollender des Traums von einer ins Leben überführten Kunst? Der Rezensent dieses Buches müßte eigentlich Peter Sloterdijk heißen und eine kleine Kritik der zynischen Vernunft liefern. Aber gut, lassen wir uns einmal auf Groys‘ These ein. Ärgerlich ist da auch nicht so sehr die scheinbar ganz unironische Redeweise vom „Künstler -Herrscher“ Stalin, den „ästhetischen Prinzipien“ der Parteidiktatur usw. Denn das gemeinsame Dritte von Kunst und Politik, das Groys zu dererlei Metaphern treibt, liegt für ihn eben im „Willen zur Macht“, von dem auch „der Avantgarde -Künstler“ geleitet worden sei. Spätestens hier aber wird das eigentliche Ärgernis dieses Buches deutlich: Es ist die unscharfe, undifferenzierte Begrifflichkeit von Groys (Macht, Avantgarde-Künstler, Kultur - lauter monolithe Blöcke bei ihm); und es sind seine ständig generalisierenden, alles einebnenden Aussagen.

So überrascht Groys, der übrigens an der Universität Münster russische Geistesgeschichte lehrt, schon in seiner „Einführung“ in die Kultur der Stalinzeit mit folgenden kühnen Behauptungen: Die Avantgarde, die Neuordnung der Welt nach künstlerischen Prinzipien, sei eine vom Westen vorgebrachte und erprobte, doch erstmals in Rußland voll realisierte Idee. Wie ja auch - wörtlich! - „die russische revolutionäre Ideologie“ schon „aus dem Westen“ importiert worden sei: „Sie hatte keine eigenen Wurzeln in Rußland. (...) Schon die Reformen Peters des Großen vom Anfang des 18.Jahrhunderts haben die Bereitschaft der russischen Bevölkerung gezeigt, sich westlichen Neuheiten zuliebe relativ leicht von der Vergangenheit und selbst von scheinbar tief verwurzelten Traditionen zu lösen, wenn diese Ablösung einen schnellen Fortschritt versprach.“

Was steckt hinter diesem „relativ leicht“ und der angeblichen „Bereitschaft“ des russischen Volkes, wenn nicht der aufgezwungene und mit unsäglichen Leiden bezahlte Wille eines Diktators?

Und weiter: „Die rein ästhetische Abneigung gegenüber der eigenen, als rückständig und minderwertig eingeschätzten Vergangenheit machte das Rußland des 19.Jahrhunderts extrem empfänglich für die neuen künstlerischen Formen und dazu bereit, sie schneller zu assimilieren als der Westen selbst, weil die Intelligenz auf diese Weise in der Lage war, ihren Minderwertigkeitskomplex zu kompensieren und ihrerseits den Westen als kulturell rückständig zu betrachten.“

Wer also kompensierte hier mit neuen künstlerischen Formen aus dem Westen seine Minderwertigkeitskomplexe? Puschkin? Dostojewskij vielleicht? Oder gar Tolstoj? Wir erfahren nicht, wer „das Rußland des 19. Jahrhunderts“ ist und wer „die Intelligenz“. Denn es gehört zur Eigenart des gesamtkunstwerklichen Entwurfs von Boris Groys, sich nicht bei Einzelpersönlichkeiten aufzuhalten, um die her sich eine Argumentation allererst zentrieren könnte. Was ist gemeint mit „der heutigen mediokren und an sich selbst zweifelnden sowjetischen Kultur“, von der es bis vor kurzem noch mindestens dreierlei gab: die offizielle, die inoffizielle oder die der Emigration? Und wer schließlich ist „die russische Avantgarde“? Man muß es sich schon selbst querbeet bei Groys zusammenlesen, der ganz offensichtlich für eine kleine Gruppe slawistischer Insider schreibt, doch auch für die äußerst rätselhaft. Zur Avantgarde zählt Groys nicht etwa Anna Achmatowa, Ossip Mandelstam oder Michail Bulgakow. Im Gegenteil, sie nennt er „relativ traditionalistisch gesinnte Autoren“. Eben diesen Begriff verwendet er aber wenig später auch zur Charakterisierung des Sozialistischen Realismus der Stalinzeit, der mit „nicht-avantgardistischen, traditionalistischen Mitteln“ operiere. Mandelstam und Co. danken verbindlichst für diese Gesellschaft!

Kronzeugen für Groys‘ These von der russischen Avantgarde als Vorläuferin der Stalinkultur sind dagegen der konstruktivistische Maler Kasimir Malewitsch, der futuristische Poet Velemir Chlebnikow sowie Alexander Rodschenko und Wladimir Majakowskij, also der linke Flügel der LEF („Linke Front der Kunst“). Es ist klar: Dem Autor geht es um ein historisches Konstrukt. Er versucht, eine kontinuierliche Entwicklung von der Avantgarde über die Kunst der Stalinzeit bis hin zur Soz-Art der siebziger/achtziger Jahre nachzuweisen, die den Stalinismus samt sozrealistischem „Willen zur Macht“ parodiert und reflektiert. Dabei will Groys mit jener - in der Sowjetunion wohl besonders wirkungsmächtigen - „naiven Einstellung zur Kunst“ aufräumen, die „Kunst als eine von jeglicher Macht unabhängige“, autonome Tätigkeit ansieht.

Die Frage nach dem genauen Verhältnis von Künstler und Macht ist weiß Gott bedenkenswert. Führt aber vom künstlerischen „Willen zur Beherrschung des Materials“ tatsächlich ein gerader Weg zum totalitären Geist und Herrscher-Wahn, jenem primitivsten Willen zur Macht? Oder gilt es hier nicht doch zu differenzieren? Ist der Wunsch des Künstlers nach Einfluß auf seine Welt nicht völlig legitim? Geht Malewitschs Schwarzes Quadrat nicht von der Idee einer absoluten Reinigung aus, um von dort eine neue und eben „geistige Welt“ aufzubauen, die auf den Betrachter ausstrahlen möge? Träumt Chlebnikows alogische Klangsprache „Saum“ (jenseits des Verstandes) nicht von der uralten, einigenden Magie der Kunst? Glaubten Majakowskij und viele andere nicht einen Augenblick lang aufrichtig an die Verwirklichung einer sozialistischen Utopie, die die Kunst endlich ganz ins Leben überführte, nicht aber umgekehrt das Leben in eine künstliche Form zwänge, wie Diktatoren es tun?

Groys ist gelernter Mathematiker, nicht Literaturwissenschaftler. Seine Art, Malewitsch- und Chlebnikow-Zitate nicht zu interpretieren, sondern einfach kommentarlos zu Beweissätzen seines Konstrukts zu degradieren, arbeitet auf die Dauer der Absicht des Buches entgegen: Aus einer durchaus wünschenswerten Rehistorisierung der „Kultur“ der Stalinzeit wird letztlich eine Enthistorisierung der Avantgarde.

Der großen Linie zuliebe, derzufolge der Sozialistische Realismus sich kontinuierlich und konsequent aus der Avantgarde ergeben habe, müssen eben etliche Antithesen und Brüche zusammengeleimt werden. Da aber immer noch überwiegend Differenzen im Verhältnis zu literarischem Erbe, Widerspiegelungstheorie und Idee vom „neuen Menschen“ bleiben, hilft Groys sich mit der Behauptung: „Diese Unterschiede resultieren nicht aus der Absage an das Avantgarde-Projekt, sondern aus seiner Radikalisierung, die die Avantgardisten nicht hatten leisten können.“

Im Bemühen, das nachzuweisen, belegt Groys jedoch Punkt für Punkt, daß die vermeintliche Radikalisierung in Wahrheit eine Pervertierung des Avantgarde-Projekts bedeutete. War die Avantgarde für einen radikalen Bruch mit dem künstlerischen Erbe der Vergangenheit, so empfahl die stalinistische Partei, doch etwa die Bilder eines Raffael zu nutzen, um daran das notwendige „Gefühl für Harmonie“ zu schulen. Lag der Avantgarde am „Bloßlegen des künstlerischen Verfahrens“, um einer stumpfen, identifikatorischen Haltung des Publikums entgegenzuarbeiten und seine ästhetische Neugier zu wecken, so kehrte die Kunst der Stalinzeit wieder zur „verdeckten Manipulation des Unbewußten“ zurück. Die avantgardistische Erschaffung dessen, was noch nicht ist, wurde im Sozrealismus zur schnellen Umsetzung der neuesten Parteidirektive. Die Verwirklichung der sozialistischen Utopie degenerierte zur Mimesis des Stalinschen Willens. Kurz: Der Sozialistische Realismus wurde zur anbefohlenen Hagiographie des göttergleichen Stalin. Groys selbst liefert die Stichworte für dasjenige kulturelle Erbe, an das der Sozrealismus, die pervertierte Avantgarde, hierzu anknüpfte: Es sind dies die „rituelle, sakrale Kunst der Vergangenheit“, theatralisch-magische Praktiken und aktualisierte Formen „primitiven Denkens„; Archaismen, die wenn, dann der russische Symbolismus und nicht die Avantgarde heraufbeschworen hatte. Dieser, wie Groys es treffend nennt, „Byzantinismus der Kultur der Stalinzeit, ihre Sättigung mit christlicher Symbolik“, ihr pseudoromantischer, verkitschter „Kult der Liebe“, all das sind keine Mythologeme der Avantgarde.

Vieles an Groys‘ Bestimmung der Avantgarde wirkt wie die Projektion seiner heutigen Weltsicht auf damals. Etwa die Behauptung, die russische Avantgarde habe sich keineswegs für den technischen Fortschritt begeistert. Ihr Ziel sei es vielmehr gewesen, „die zerstörerische Wirkung der neuen Technik zu kompensieren“, sie aufzuhalten, indem sie sie überholte. Der Prozeß der Zerstörung sollte gewissermaßen vorauseilend vollendet werden, um so eine neue Position außerhalb der Geschichte zu finden. Wie aber ist das vereinbar mit einer ganzen Welt technizistischer (und keineswegs „kompensatorischer“) Metaphern bei Majakowskij, mit Dziga Vertows Filmen und Alexander Mossolows Musik (etwa seiner „Eisengießerei“), jener aufrichtig naiven Technikbegeisterung, die ebenso wie der Glaube an den Anbruch des Sozialismus grausam scheitern sollte? Wieder läuft Groys‘ Argumentation auf eine Enthistorisierung der Avantgarde hinaus.

Und dann erscheint da im dritten und sicher noch lesenswertesten Kapitel über die „postutopische Kunst“ in der Sowjetunion schließlich das modische Wort vom „Ende der Geschichte“ nach Stalin. Als hätten wir nach den miserablen Heilsaposteln Hitler und Stalin und dem folgerichtigen Scheitern ihrer negativen Utopien das Recht, auf ewig zu schmollen. Als sei Geschichte - und unsere Verantwortung dafür - nicht auch ohne Heilslehren denkbar. Wenn auch am Horizont die Raketen stehen - bis dahin haben wir unsere Geschichte. Und geht der Horizont in Flammen auf, so haben wir das zu verantworten, und nicht irgendein Hitler oder Stalin...

Der Zynismus, der sich in der vielbemühten Rede vom „Ende der Geschichte“ verbirgt (wenn es nicht klägliches Legitimationsdenken ist), scheint mir vergleichbar mit den hie und da eingestreuten abschätzigen Bemerkungen von Groys zu Gorbatschows Reformpolitik. 1987/88 notiert, sind sie Ironie der Geschichte - heute längst von der aktuellen Lage überholt. Es trifft nicht zu, daß die Kunst der Stalinzeit in der Sowjetunion heute Tabu sei. Medien, Presse, Publikationen und Kulturveranstaltungen widerlegen das; Archive und Museumslager haben sich geöffnet. Es ist auch nicht richtig, daß sowohl die offiziellen Stellen als auch die unabhängige öffentliche Meinung es vorzögen, „Verirrungen der Vergangenheit zu vergessen und an unheilbare Wunden nicht zu rühren“. Ich denke nur an den Dokumentarfilm Der Prozeß, der 1987 zur 70-Jahr-Feier der Oktoberrevolution im sowjetischen Fernsehen gezeigt wurde: Die Zeit der großen nationalen Verdrängung ist zu Ende. Es stimmt zum Glück nicht mehr, daß „die 'liberale‘ Zensur alles verbietet, was mit der offiziellen Symbolik der Stalinzeit zu tun hat“. Es gibt jetzt offene Auseinandersetzungen damit in jeder Form; die 'Moskauer Nachrichten‘ sind allwöchentlich voll davon. Und es kann schließlich nicht mehr die Rede sein von der „Unmöglichkeit, aus dem geschlossenen Kreis der herrschenden Ideologie auszubrechen“. Nicht nur alle Spatzen pfeifen es in Moskau von den Dächern, sondern sogar die jüngsten Nummern des 'Kommunisten‘ belegen es: Die Reformer im Kreml haben mit dem Abriß ihres alten Denkgebäudes vom welthistorischen Prozeß begonnen! („Abschied von Marx“ nannte Christian Schmidt-Häuer das in der 'Zeit‘ vom 3.März 1989.)

Waren es etwa diese Anschauungen, die Boris Groys als Publizisten 'FAZ'-würdig machten? Heute jedenfalls einen solchen Essay vorzulegen, heute das „Verschwinden jeglicher historischer Perspektiven“ für die Sowjetunion zu behaupten ist vorgestrig, Arrieregarde! Einfach - überflüssig.

Boris Groys, „Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion.“ Aus dem Russischen von Dagmar Leupold; Hanser Verlag, München 1988, 136 Seiten, 16,80 Mark.