Deutschlandpolitisches Vakuum

Die konzeptionelle Antwort der Parteien auf die Ausreisewelle steht aus  ■ K O M M E N T A R E

Seit über zwei Wochen läuft die Ausreisewelle. Bonn macht Sommerpause. Die zweite Garde hat deutschlandpolitisch freien Auslauf. Staatsekretär Priesnitz fand die Sprachregelung, mit der sich für die Konservativen das Problem der Ausreisewelle erstmal zuschütten ließ: Bleibt drüben - im Interesse der Wiedervereinigung.

Paradoxer ist Pragmatismus und überkommene Ideologie selten synthetisiert worden. Die eigene Klientel mit ihren widersprüchlichen Interessen glaubt man so am ehesten noch zu befriedigen. Das „bleibt drüben“ ist die Konzession an die Modernisierungsverlierer hier, die in der sich rapide verschärfenden Konkurrenz mit den ehemaligen DDR-Bürgern auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt in eine immer aussichtslosere Lage gedrängt werden. Die Wiedervereinigungsoption bedient jene Anhänger, die, geprägt vom antikommunistisch unterfütterten Nationalismus, mit der deutschlandpolitischen Wende der Union noch immer nicht klarkommen. Beides zusammen ist eine Option, wie sie die Republikaner ideologisch lupenreiner nicht hätten kreieren können.

Doch für „die Linke“ ist das Dilemma nicht weniger brisant: eingeschossen auf die Wiedervereinigungspräambel und die bundesdeutsche Obhutspflicht für DDR-Bürger, greift sie im hilflosen Reflex auf die Forderung nach Anerkennung der DDR -Staatsbürgerschaft zurück. Doch die Chance, damit die zweite Phase der Deutschlandpolitik einzuläuten, ist vertan. Denn das Kalkül mit der vollen Anerkennung, die DDR aus der deutsch-deutschen Konfrontationslinie zu nehmen, um ihr so innenpolitischen Handlungsspielraum in Richtung Demokratisierung zu schaffen, ist heute Wunschdenken. Über den Realitätsverlust der SED-Führung und ihre Entschlossenheit zur Stagnation läßt sich nicht mehr streiten. Das Kalkül ist dahin - bleibt nur die Pose. Ob diese Pose angesichts des Ausreisewillens von mehr als einer Million DDR-Bürger angemessen erscheint, läßt sich nur als rhetorische Frage ins Spiel bringen. Zugutehalten kann man den linken Deutschlandpolitikern, daß sie es bislang vermieden haben, die Konsequenzen ihres Vorschlags zu konkretisieren: die Verweigerung der Freizügigkeit, die Abschiebung in die DDR, die Mauer nach Osten.

Wenn sich die DDR unter dem Druck der Ausreisewelle und einer sich formierenden Opposition der osteuropäischen Entwicklung nicht mehr entziehen kann, steht die volle Anerkennung auf der Tagesordnung - bis dahin sollten sich die Deutschlandpolitiker dem Dilemma ihrer Konzeptionslosigkeit stellen.

Matthias Geis