Der Regisseur als Held

■ Pünktlich zur Wiederaufführung des neuen alten Nicholas-Ray-Films „In a lonely Place“ erschien in der Edition Filme ein altes neues Ray-Buch

Es war ein glückliches Zusammentreffen, vielleicht sogar das, was man in der Politik einen „historische Chance“ nennen würde: Nicholas Ray und die 'Cahiers du Cinema‘ in den fünfziger Jahren. Damals traf sich der jugendliche Überschwang einer Kritikergeneration mit dem einer jungen Garde von Filmemachern: Robert Aldrich, Richard Brooks, Sam Fuller und Ray verstanden es, sich unvermittelt auszudrücken, ohne dabei ihre Affinität zur Reflexion zu verraten. Kritiker wie Jacques Rivette waren fasziniert von der Gewalttätigkeit der Sujets und der Inszenierung dieser Regisseure, die er als die „Revolutionäre von 1955“ begrüßte und zu deren Tugenden er zählte: Lyrismus, heftige Empfindungen, eine gewisse Großartigkeit der Gesten, die Äußerung ungeschliffener Gefühle.

Die Entdeckung, daß die jungen Filmemacher - unabhängig von den Genres, in denen sie arbeiteten, und den Studios, bei denen sie unter Vertrag standen - bestimmte Themen und Motive kontinuierlich behandelten und hierbei eine eigene Weltsicht offenbarten, ließ die jungen Kritiker sie zu „Autoren“ küren. Ray blieb für viele der Protagonist dieser Bewegung - offensichtlich verfolgte er seine Intentionen obsessiver als seine Zeitgenossen. Fortan standen seine Karriere und sein Ruf im intimsten Zusammenhang mit seiner Rezeption in Europa.

Mehr als 30 Jahre später wirft nun die Publikation des von Norbert Grob und Manuela Reichart herausgegebenen Bands 5 der „Edition Filme“ die Frage auf: War Ray von vorneherein ein Autor, oder haben die 'Cahiers‘ ihn dazu gemacht?

Karlheinz Oplustils einleitendem Essay über Ray und die Cahiers du Cinema kommt hier eine grundlegende Bedeutung zu. Er versteht es nicht nur, deren „politique des auteurs“ von der in den USA popularisierten „Autorentheorie“ abzugrenzen, er weckt auch die Lust, die alten Kritiken von Truffaut, Rohmer & Co. zu lesen. Sein Text unterschlägt nicht, daß die Vorlieben und Urteile der 'Cahiers‘ damals als eine Provokation gewirkt haben, die das Nachdenken über Film seitdem grundlegend verändert hat. Fast jeder Text im neuen Buch nimmt implizit oder explizit Bezug auf diese Tradition.

Der längste (und übergreifendste) Text, Der späte Expressionismus - Anmerkungen zu Rays Stil von Norbert Grob, ist lesbar als Revision eines Textes, den dieser Autor vor neun Jahren in der Zeitschrift 'Filme‘ publizierte, vor allem in der Frage, ob Ray wirklich ein „auteur“ ist. Müssen nun die Scherben aufgesammelt werden, die eine frühere Kritikergeneration hinterlassen hat?

Eines steht außer Frage: Sämtliche Autoren leben schon sehr lange mit ihrer Begeisterung für Ray (und der ihrer Vorgängergeneration). Dies läßt sich auch an der Entstehungsgeschichte des Buches festmachen, die eher davon Zuegnis ablegt, wie schwer es ist, auf dem deutschen Markt ein Filmbuch zu plazieren, das sich nicht als Starmonographie verramschen läßt: Zu Anfang des Jahrzehnts geplant, wurde der Großteil der Essays und Filmbesprechungen schon vor drei jahren geschrieben, allerdings scheiterte die Publikation anläßlich der Ray-Retrospektive im Berliner „Arsenal“ 1987 aus verlagstechnischen Gründen.

Irgendwann einmal fällt im Buch der Satz: „Es ist ein leichtes, seine Film zu verteiigen, sie tragen die Spuren seiner selbstzerstörerischen Kämpfe.“ Spätestens an dieser Stelle wird klar, daß Ray selbst zum mythischen Helden geworden ist. (Das Image vom Rebellen gegen das System ist es sicher auch, was den Zuschauererfolg der erwähnten Ray -Retrospektive nicht mehr ganz so überraschend erscheinen läßt.) Es ist etwas an diesem Regisseur, das seine Interpreten zu einem aggressiven Subjektivismus treibt, der sich per definitionem unangreifbar wähnt. Er schlägt besonders in der kommentierten Filmographie zu Buche, führt bestenfalls zu einer Aufwertung bislang als marginal eingeschätzter Filme, macht aber nicht unbedingt Lust, dies dann auch noch einmal zu sehen.

Das zwiespältige Verhältnis von Rays Inszenierung zu seinen Drehbüchern hat nicht aufgehört, diejenigen zu faszinieren, die über ihn schreiben. Das Verhältnis jedoch auf einen deutlich konturierten Kontrast zu reduzieren, hieße Ray Unrecht tun. Bei fortschreitender Lektüre fällt jedoch ein lustvolles Ausspielen der Inszenierung gegen die Sujets auf. Als sei es verachtenswert, den Inhalten in Rays Filmen nachzuspüren, als sei einzig das Zelebrieren seiner mise-en -scene ein legitimes, diesem Regisseur entsprechendes Verfahren. (Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß Oplustil en detail auf einen 'Cahiers'-Artikel eingeht, der Anfang der sechziger Jahre einige Berühmtheit erlangte als Beispiel für den „fehlgeleiteten Enthusiasmus“ der Zeitschrift: eine Besprechung des Films Party Girl, die damals „närrisch“ erschien, heute jedoch wie selbstverständlicn wirkt, eben weil sie den Inhalt des Films einer Stilanalyse opfert.)

Am fesselndsten ist das Buch in den Passagen, die Ray in einen Kontext stellen. Dazu zählt Fritz Göttlers Aufsatz über Ray und die Hollywoodstudios, der zwar auf einer Formel fußt, die zum Allgemeinplatz geraten ist (daß das Erzählen im US-Kino nach dem Zweiten Weltkrieg in die Krise geraten ist). Göttler weiß Ray aber präzis als Individualisten in einem sich auflösenden Studiosystem einzuordnen. Sehr nuanciert beschreibt er überdies dessen Verhältnis zu den klassischen Genres, ausgehend von dem Diktum: „Ray hat Filme in allen Genres gedreht, doch er hat niemals Genrekino gemacht.“ Eine faszinierende Erzählung ist Rays eigener Text Story into Script, der die Genese und Produktionsgeschichte seines berühmtesten Films erzählt, Rebel without a cause (Denn sie wissen nicht, was sie tun), den er 1955 für die Warner Brothers drehte.

Die Konzeption des Buches ist - wie könnte es anders sein offen, Überschneidungen und Widersprüche mutig einkalkulierend. Allzu häufig und notgedrungen unsystematisch wird dementsprechend zum Beispiel auf die amerikanischen Traditionen verwiesen, an die Ray anknüpft (den Architekten Frank Lloyd Wright, die folk music-Bewegung der dreißiger Jahre). Eine umfassende Erforschung dieses Themenkomplexes ist im übrigen von Bernard Eisenschitz‘ Ray -Monographie zu erwarten, falls sie jemals erscheinen sollte.

Bewußt haben die Herausgeber sich für kürzere Essays und Annäherungen entschieden, die Rays Oeuvre nicht unter einen konzeptionellen Oberbegriff zwängen, sondern sich Teilaspekten seiner Filme behutsam anverwandeln. Die Montage von Selbstzeugnissen, Erinnerungen und Anekdoten im Mittelteil des Buches hätte ich mir erweitert gewünscht um Auszüge aus den Lebenserinnerungen von Rays Förderer und zeitweiligem Produzenten John Houseman, der ein schonungsloses, gleichwohl differenziertes Portrait seines Freundes, des Privatmenschen Ray, entwirft. Der Datenteil ist - wie immer bei der Edition Filme - vorbildlich, auch die biographische Skizze wirkt nicht wie eine Pflichtübung. Das Buch ist fast schon zu verschwenderisch illustriert; immerhin ist es sehr amüsant, daß im Bildteil gerade marginalen Filmen wie 55 Tage in Peking ein solch großer Stellenwert eingeräumt wird.

Ein Großteil der hier gesammelten Texte ist geprägt von einer Inflation der Stilmittel. Die meisten Aufsätze sind in erster Linie eine Montage von Erzählmomenten aus Rays Filmen und bemühen sich um eine extreme Rhythmisierung ihrer eigenen Struktur. Zu viele Texte delirieren indessen in einer Telegrammstil-Poetik, welche die Bedeutung vornehmlich an substantivierte Adjektive delegiert und in einer unmäßigen Verwendung von Doppelpunkten als Satzzäsur kulminiert. Je weiter man im Buch vordringt, desto mehr erscheint dies als Manierismus, der in keinem mimetischen Verhältnis zu Rays Stil steht.

Gerhard Midding

Norbert Grob/Manuela Reichart (Hrsg.): Ray; Edition Filme, Band 5, Wissenschaftsverlag Volker Spiess, Berlin, 315 Seiten, 39,80 DM