„Warten hat der DDR-Bürger ja gelernt“

Die potentiellen Republikflüchtlinge vor dem Bonner Konsulat in Budapest haben sich auf Dauer eingerichtet: „Wir bleiben hier bis zum tiefsten Winter“ / Offenheit und Vertrauen prägen die Szene / Die meisten haben mehrere Fluchtversuche hinter sich  ■  Aus Budapest Heide Platen

Über die Erzebez-Brücke geht es von Pest nach Buda. Durch das Verkehrsgewühl hindurch, immer weiter bergauf in ruhigere Stadtviertel. Vor der Nogradi Ucta Nummer acht muß der Taxifahrer auf die Bremse treten. Quer über die Straße sind zwei dicke Holzbretter verlegt. Sie schützen ein schwarzes Kabel. Das versorgt den blauen Wohncontainer und den Toilettenwagen gegenüber mit Strom. Hinter einer Betonmauer residiert das Konsulat der Bundesrepublik. Sie sieht aus wie ein schmuckes Eigenheim. Die Gittertore sind geschlossen. Am Buffet nebenan flattern in der Mittagshitze schlaffe, rote und gelbe Papierwimpel. Auf dem handgemalten Schild an der Mauer steht: “...die Botschaft und das Konsulat sind vorübergehend geschlossen...“

Von der Terrasse darüber sehen abwechselnd ein großer gelber Hund, ein Konsulatsangestellter und eine Frau, die Blumen gießt, herab auf die andere Seite der Straße. Dort lagern im Gras auf dem schmalen Grünstreifen zwischen Heckenrosen und Disteln dichtgedrängt über 100 Menschen. Manche harren hier schon zwei Wochen aus. Die potentiellen Republikflüchtlinge aus der DDR haben ihre Luftmatratzen und Schlafsäcke ausgebreitet. Zwischen den Büschen hängen Wäschestücke. Auf der Straße stehen reihenweise ihre Trabis, einer sogar mit Wohnwagen.

Daran, daß sie keinen Trabi bekommen haben, kann es nicht liegen, daß sie abhauen wollen aus dem Arbeiter- und Bauernstaat. Sie tragen fast alle westliche T-Shirts, Benneton, Fruit of the Loom, mit Aufschriften amerikanischer Städte. Der Haarschnitt der jungen Männer wechselt zwischen Punk, Pop und Hippie. Jeans sind fast uniform. „Alles aus'm Westen...“, sagt Albert, knapp über 20: „Wenn wir euch nicht hätten...“ Er meint das ironisch.

Dreimal hat er die Flucht über die ungarische Grenze nach Österreich versucht, dreimal ist er erwischt und zurückgeschickt worden. Einmal, nach einem langen Nachtmarsch durch den Wald bei Mondschein, dachte er, er habe es geschafft. Doch er kam wieder nur in einem ungarischen Dorf heraus und wurde festgenommen. „Aber“, sagt er, „die Grenzer sind nett, nicht wie unsere...“

Die vor dem Konsulat ausharren, loben die Konsulatsangestellten, die ihnen Essen, Geld, Gartenliegen, Hocker besorgen, sich um sie kümmern. In einem Wohnwagen gibt es Getränke und Essen, heute Nudeln mit Goulasch, und die in Ungarn unvermeidlichen sauer eingelegten Paprikaschoten. Ein Zettel legt die Empfänger fest: „Essensausgabe für hilfsbedürftige Deutsche“.

Die sind sauer auf die 'Bild'-Zeitung, die das Konsulat in dicken Schlagzeilen schlechtgemacht hatte. Von den vier jungen Männern, die von den Angestellten angeblich bedroht und fortgeschickt wurden, haben sie alle nichts gesehen, und sie sind schließlich lange genug da.

Angst haben sie keine, nicht mehr. Sie stellen sich den zahlreichen JournalistInnen und vor allem den Kameraleuten und Fotografen mehr als gerne. „Wir gehen ja doch nicht zurück in die DDR.“ Und: „Wir bleiben hier bis zum tiefsten Winter.“ Das sagen sie alle immer wieder, mit ernster und entschlossener Sicherheit, wie um sich Mut zu machen. Tausende haben, schätzen sie, in den letzten Wochen hier gelagert. Viele haben sich im Land verstreut, Unterschlupf bei ungarischen Freunden gefunden und warten ab. Sie bunkern sich ein. „Warten“, spottet Albert, „Warten hat der DDR -Bürger ja gelernt...“ Er wird den Grenzübergang in den nächsten Tagen ein viertes Mal versuchen.

Klaus, groß, schlank, braungebrannt, hat es erst einmal versucht. Zehn Kilometer ist er durch den Wald gelaufen und dann doch geschnappt worden, mit Frau und zwei Kindern. Der Kleine ist erst drei Jahre alt. Er sei eingeschlafen auf den Armen des Vaters und „nach sechs Kilometern Fußmarsch so schwer geworden wie drei Zentner“. Klaus wird es wieder versuchen.

Fast alle haben sich nicht spontan zur Flucht entschlossen. Fast alle sind das eine oder andere Mal bei Demonstrationen der Friedensbewegung dabeigewesen, haben Ausreiseanträge gestellt und Monate oder Jahre gewartet. „Wir wollten ja auch, daß sich zu Hause etwas ändert...“ Der ehemalige Forstangestellte Werner sagt „zu Hause“ und merkt es nicht. Er redet wie ein Wasserfall. Der Druck ist enorm. West -JournalistInnen, denen wohl selten so offene und geradezu redesüchtige Gesprächspartner begegnen, dienen als Ventil für die aufgestaute Redeflut.

Das Vertrauen der Fluchtwilligen untereinander ist sicher grenzenlos. Geld, Brieftaschen, Uhren, Pässe, liegen verstreut zwischen den Schlafsäcken. Die Besitzer scheren sich nicht darum. Sie wollen in Ungarn bleiben und denken alle nicht daran, auch nur die kleinste Entgleisung zuzulassen. Sie sind bis zum Selbstbetrug sicher, daß sie dann nicht in die DDR zurückgeschickt werden, auch nicht nach der Urlaubssaison. Das schafft Disziplin im Lager.

Die Pässe sind bundesdeutsch und nagelneu. Sie stammen von der BRD-Botschaft. „Nur“, sagt Klaus, „nützen sie nichts ohne den ungarischen Einreisestempel. Trotzdem, daß man sie hat, gibt einem ein ganz anderes Selbstbewußsein.“ Sich ihrer selbst zu vergewissern, wer zu sein, einfach zu existieren, Person zu sein und nicht Unperson, ist für die meisten ein Motiv für die Flucht. Da hilft so ein Papier zum Anfassen. Die neuen Pässe sind alt. Grün und in der Bundesrepublik nicht mehr zu haben. Das Konsulat braucht die Restbestände der Bundesdruckerei auf. Dennoch geben sie Kraft. „Ich war“, sagt Werner, „da, wo wir hinreisen können, immer ein Urlauber zweiter Klasse...“