Nachkriegsitalien historisch - sehr aus der Ferne gesehen

■ Friederike Hausmanns „Kleine Geschichte Italiens seit 1943“ bei Wagenbach

Die Rezensentenweisheit sagt, daß man Bücher am besten nicht an deren eigenem Anspruch, sondern am gegebenen Inhalt und den ausgelassenen Chancen messen sollte. Da ist was dran, und so wollen wir mal gleich die zwei Schlüsselworte in Wagenbachs Rückseitentext zu Friederike Hausmanns Kleiner Geschichte Italiens seit 1943 vergessen: „Mit diesem Buch erscheint zum ersten Mal im deutschen Sprachraum eine vollständige, leicht zugängliche Geschichte Italiens von 1943 bis heute.“ - Das Buch, 175 Seiten stark, zu 16 Mark 50 ist weder vollständig (was bei diesem Umfang wohl auch nur ein abgefeimter Reklametexter unterstellen kann), noch ist es leicht zugänglich.

Doch auch wenn wir nicht auf Vollständigkeit bestehen: Ist es möglich, eine Geschichte Italiens von 1943 bis heute zu schreiben und einer der einflußreichsten Mächte im politischen und ökonomischen Getriebe, der Mafia mit ihren mehr als 10.000 Morden (das Fünffache des nordirischen Bürgerkriegs), gerade nur ein Dutzend Zeilen zu widmen, dazu auch noch höchst fragwürdige (etwa, daß die Süd -Entwicklungsgelder von den örtlichen „politischen Notabeln“ vereinnahmt worden seien, „in vielen Fällen freilich nur mit Hilfe eines gefährlichen Partners“, der Mafia: Tatsächlich wurden in aller Regel die Politiker von mafiosen Bossen zur Gelderakquisition instrumentalisiert, nicht umgekehrt)? Ist es möglich, die Historie der letzten 45 Jahre zu dokumentieren und dabei den sizilianischen Seperatismus nur in einem Halbsatz zu erwähnen - wo doch dessen Abwendung schon 1946, noch vor Einführung der Republik, zu einem Autonomiestatut geführt hat, das nicht nur den Mafia-Clans besondere Freiheiten gewährt, sondern bis heute die Hausmacht besonders intrigengewandter DC-Fürsten wie Giulio Andreotti begründet, indem es grundwichtige Sektoren wie Banken, öffentliche Verwaltung und Ordnungskräfte weitgehend der Kontrolle der Zentralregierung in Rom entzieht und so zu einem wichtigen Einflußfaktor auf die dortige Politik macht? Kann man volle 25 Seiten über „Die politischen Parteien Italiens“ verfassen - und dabei den epochalsten Einschnitt, nämlich den bisher nur ein einziges Mal geglückten Einzug einer rein von der Basis her (also nicht durch Abspaltung von anderen Parteien) aufgebauten Formation ins Parlament, mit kärglichen elf Zeilen überwischen, in denen dann auch noch besonders dümmliche Passagen wie diese vorkommen: „Die größte Überraschung bei den Wahlen von 1987 war das gute Abschneiden der zum ersten Mal angetretenen „Grünen“ (Verdi) mit 2,5 Prozent. Als sie in ihrem römischen Hauptquartier den Sieg mit russischem Sekt begießen wollten, fragte jemand, ob denn das nicht allzusehr nach bewußter Beleidigung der PCI aussähe.“ Da nützt auch das dick eingerückte Bild des „Alexander Langer von den Verdi“ nichts - es wird nicht einmal erklärt, für welche der von der Autorin vorher kurz angesprochenen, „verschiedensten Bewegungen, Einzelpersönlichkeiten und Grüppchen“ der Mann denn steht.

Ich bin mir natürlich der Schwierigkeiten bewußt, eine Geschichte Italiens - gleich wie lang oder kurz - für ausländische und ganz speziell deutsche Leser zu schreiben: Allzuviel ist in Italien zwar an der Oberfläche deutschen Zuständen ähnlich, doch in seiner Entstehungsgeschichte und seinen Anwendungsformen völlig verschieden; etwa die in der Verfassung formulierten Menschen- und Bürgerrechte, die im Rechtssystem völlig anders ausgelegt werden als bei uns alleine das würde ein Buch füllen. Allzuviel ist umgekehrt scheinbar ganz anders als bei uns, doch in Wirklichkeit auch wiederum gar nicht so verschieden - etwa die auch von Friederike Hausmann immer wieder beschworenen zahlreichen Regierungswechsel (49 bisher): Tatsächlich lag, rechnet man die nur zur Regierungsverwaltung während der Sommerferien üblichen „Badekabinette“ ab, das Amt des Ministerpräsidenten in 40 der 45 Nachkriegsjahre in nur acht verschiedenen Händen, zwei mehr als in den 40 Jahren BRD: De Gasperi (achtmal Regierungschef), Fanfani (6), Andreotti (6), Moro (5), Rumor (5), Segni (2), Spadolini (2) und Craxi (2).

Das Problem einer adäquaten Behandlung Italiens verschärft sich noch, wenn man wie Friederike Hausmann - trotz eines in der Biographie gerühmten „mehrjährigen Italienaufenthaltes“

-die Informationen im wesentlichen offiziellen oder offiziösen Angaben, Sekundärwerken oder, schlimmer noch, den in Italien besonders partei- und industriegebundenen Zeitungen und Magazinen entnimmt und die (für ein zeitgeschichtliches Werk mögliche und daher unerläßliche) Realitätskontrolle vergißt. Musterbeispiel: die Würdigung des ersten sozialistischen Regierungschefs des Landes, Bettino Craxi, der von 1983 bis 87 waltete: „Schon bevor er den aufmüpfigen Gewerkschaften wirkungsvoll die Knute gezeigt hatte, konnte Craxi im Februar 1984 einen zweiten historischen Erfolg verbuchen. Unter seiner Ägide wurde das seit Jahren verhandelte neue Konkordat, das die leidigen Lateranverträge aus Mussolinis Zeiten ersetzen sollte, unterzeichnet. Damit war die Trennung zwischen Kirche und Staat endlich besiegelt und die letzte Hürde einer Annäherung zwischen pragmatischen Christen und sozialistischen Pragmatikern gefallen. Auf dieser Basis führte Craxi eine der ruhigsten Legislaturperioden der Nachkriegsgeschichte...“ Wie man's nimmt: Nicht nur, daß Craxi in seinen dreieinhalb Regierungsjahren mehr als 250 Abstimmungsniederlagen hinnehmen mußte, nicht nur, daß Rotbrigadisten-Nachfolger hohe Gewerkschafter und den ranghöchsten SDI-General des Landes, Mafiosi reihenweise Fahnder und Polizeichefs umbrachten - auch die gerühmten „Erfolge“ waren so toll nicht: Die Abschaffung der „Scala mobile“, der automatischen Lohnanpassung an die Inflation, war bereits vorher durch die Industrie faktisch außer Kraft gesetzt worden - mit gewerkschaftlichem Einverständnis; das Referendum zur Wiedereinführung der Scala mobile wurde vom PCI erzwungen, nicht von den Gewerkschaften - die es dann auch so halbherzig unterstützten, daß es verlorenging. Und das bejubelte Konkordat erwies sich als so brüchig, daß die Beamten bis heute noch nicht genau wissen, wie sie es anwenden sollen.

Dem stehen freilich andere „Leistungen“ gegenüber: so die Kaltstellung mutiger Juristen wie des Trientiner Ermittlungsrichters Carlo Palermo, der Querverbindungen von PSI-Finanziers und Waffenschiebern auf der Spur war; die systematische Zerstörung der bis dahin wenigstens notdürftig funktionierenden Judikative überhaupt, die vermittels allerlei Disziplinierungen (mit Gehaltskürzungen und öffentlichen Abmahnungen) an die politische Leine gelegt wurde, und die freimütige Öffnung der Sozialisten für mafiose Zuwendung, deutlich geworden 1987, als Craxis Mannen bedenkenlos die Hilfe der von den Bossen manövrierten 150.000 Wählerstimmen annahmen und versprachen, den ersten antimafiosen Bürgermeister Palermos, Leoluca Orlando, zu kippen (was allerdings wegen Volkswiderstandes dann nicht gelang).

Das einzige, was bei Craxi allerdings besser als bei allen anderen Politikern funktionierte, war seine Selbstdarstellung - keiner vor ihm hat je mit so wenig wirklichen Entscheidungen so viel Wind zu machen vermocht; sein Glück war schlicht, daß er mitten im Weltwirtschaftsboom ins Amt kam. An den Folgen des Craxischen Laissez-faire wird Italien noch Jahrzehnte zu tragen haben. Bei Friederike Hausmann findet sich nichts darüber; getadelt wird, allenfalls milde, Craxis Starkult. Ansonsten finden sich im Buch auch noch allerlei ärgerliche Widersprüche: Seitensweise schimpft Friederike Hausmann zum Beispiel auf die unmenschliche Verweigerung jeglicher lebensrettender Verhandlungen für den von den Roten Brigaden entführten DC-Präsidenten Aldo Moro - doch kaum zwei Seiten entfernt schreibt sie, daß „das Land von 1978 bis 1985 in Sandro Pertini einen sozialistischen Staatspräsideten von seltener Menschlichkeit, Popularität und bewundernswertem Mut hatte“: Gerade Pertini, der im Gegensatz zu all seinen Parteigenossen penetrant die Linie des dann für Moro tödlichen Nichtverhandelns verfochten hatte (und nur deshalb dann von DC und PCI gewählt wurde), der immer bereit zu Vorverurteilungen war (etwa im Fall der „Autonomia operaia“, deren Mitglieder später nahezu alle freigesprochen werden mußten) und der selbst winzigen Randfiguren der Roten Brigaden Gnadenerweise verweigerte (einen versehentlichen Fall bedauerte er öffentlich).

Solche leider recht häufigen Patzer entwerten ein Buch, in dem sich die Autorin an vielen Stellen als hervorragende Analytikerin und treffsichere Hintergrundinterpretin erweist (etwa im Kapitel über die Gewerkschaften, bei der Studenten und Arbeiterbewegung, bei der Terrorismusfrage).

Solidarisch gesagt: Ich wünsche dem Buch einen raschen Verkauf - und eine gutgemachte, von Halbheiten und vielen Versehen (den Radikalenführer Pannella schreibt sie zum Beispiel nicht ein einziges Mal richtig) gereinigte zweite Auflage.

Werner Raith