Zukunft ohne Rekorde

Die Krise des Sports als Sinnentleerung von Zahlen  ■  PRESS-SCHLAG

Sport und Rekord gehören zusammen. Rekorde - zu messen in Zentimetern, Gramm und Sekunden - machen den Sport erst aus. Und gerade dieses Objektive des modernen Sports ist offensichtlich in der Krise.

Es fängt damit an, daß gegenwärtig kein Mensch mit Sicherheit zu sagen vermag, wie denn der Weltrekord im 100 -Meter-Lauf der Männer lautet; 9,79 Sekunden ist Ben Johnson in Seoul gelaufen, was nicht so recht sauber war. 9,83 Sekunden ist er in Rom bei der Weltmeisterschaft davor gesprintet, wobei er zwar gedopt war, aber das wußte man damals nicht. 9,92 Sekunden lief Carl Lewis im olympischen Finale. Aber seit wann sind „pacemaker“ über 100 Meter erlaubt?

Ähnliche Verwirrung erleiden gegenwärtig die für die Betreuung der Presse Zuständigen bei der Schwimm -Europameisterschaft. Berichterstatter erhalten dort einen Wust von Zetteln, auf denen die Welt- und Europajahresbesten, die Welt-, Europa- und Deutschen Meister und natürlich die Olympiasieger ausgewiesen werden. Die vom Veranstalter in Bonn verteilte europäische Jahresbestenliste hat den Stichtag 1.8.89. Eine sich fast in jedem Punkt unterscheidende europäische Jahresbestenliste findet sich im „Schwimmsport, Fachorgan des Deutschen Schwimmsport -Verbandes der DDR“. Deren Stichtag ist der 31.7.89, in jener Nacht muß einiges passiert sein.

Aber allein die Listen, die von den EM-Veranstaltern selbst erstellt und verantwortet werden, geben nicht nur hinten und vorn Rätsel auf. Ganz offensichtlich eine tiefe Krise des Sports, die sich als Sinnentleerung von Zahlen darstellt. Da wird mal ein Franzose namens Franck Schott als Europas Schnellster dieses Jahres über 100 Meter Rücken geführt, in einer Zeit von 53,32 Sekunden - by the way: ein Fabelweltrekord, derart fabelhaft, daß niemand Notiz davon nahm. Der Mann findet sich in der „ewigen“ Bestenliste also die schnellsten bisher weltweit geschwommenen Zeiten gar nicht erst wieder. In einer anderen Liste ist er mit 56,32 verzeichnet, und die DDR-Zahlenkolonnen kennen ihn überhaupt nicht.

Ähnliches fällt auf beim Weltrekord über 800 Meter Freistil. Der gehört Wladimir Salnikow in einer Zeit von 7:50,64. Zweiter in der ewigen Liste ist ein Schwimmer mit 7:50, 45 - ein Wimpernschlag schneller und doch nur Zweiter.

Angefangen hat diese Sportverwirrung wohl mit dem Tor von Wembley 1966, wo nur Bundespräsident Heinrich Lübke auf Ballhöhe war. Danach war der Ball zwar immer noch rund, das Spiel dauerte immer noch neunzig Minuten, aber ein Tor war nicht mehr unbedingt ein Tor.

Wobei der italienische Weitspringer Evangelisti nicht zu vergessen ist, der nichtsahnend (höhö, d.S.) von patriotischen Kampfrichtern bei der Leichtathletik-WM in Rom auf Platz drei gemessen wurde, 30 Zentimeter wurden dabei dazugemogelt. Oder das Finale der Schwimmer über 400 Meter Lagen in München, als Sieger Larsson sich 1972 Gold sicherte mit einer Tausendstel Sekunde vor dem US-Amerikaner McKee, wobei sich Jahre später herausstellte, daß dessen Bahn einen Zentimeter länger war.

Daß der moderne, objektive Sport in einer tiefen Krise steckt, läßt sich auch ablesen daran, daß am Jahrhundertsprung von Bob Beamon, 1968 in Mexiko auf 8,90 Meter gesegelt, mittlerweile gezweifelt wird. Das Zeitalter der Rekorde ist endgültig vorbei.

Martin Krauß