Genug Waffen für eine Guerilla

In der chinesischen Hauptstadt Peking kommt es nachts noch immer zu Schießereien / 1.000 Waffen sind im Umlauf / Die Rache der Familienangehörigen der Opfer des Massakers versetzt Soldaten in Angst und Schrecken / Nach wie vor gehen Exekutionen und Folter weiter / Ein Terrorregime setzt sich durch  ■  Aus Peking Volker Lippholz

Zwei Reisegruppen waren auf dem Weg nach Peking, eine größere italienische und die eines Berliner Veranstalters. Doch war der Lufthansa-Jumbo des Flugs LH-20 nur mäßig besetzt: 98 Passagiere. Wir flogen mit verminderter Crew. Warum angesichts dieser gähnenden Leere denn nicht die Flüge vermindert würden, wollte ich von der Stewardess wissen. „Anordnung des Vorstands“, war die lapidare Antwort. Jahrelang hatte die bundesdeutsche Fluglinie verhandelt, um für die Fernostflüge die wesentlich kürzere Nordroute über die Sowjetunion genehmigt zu bekommen. Und als schließlich alles unter Dach und Fach war, kam die Nacht des Massakers vom 3. auf den 4. Juni. Zwar dauert der Flug nur noch neuneinhalb Stunden von Frankfurt bis zur chinesischen Hauptstadt, aber auf dieser Route fliegt die Lufthansa momentan in die roten Zahlen. Niemand will mehr fliegen. „Es ist schon wieder besser geworden“, sagt die Stewardess beruhigend. „Viele kehren nach Peking zurück.“ Auch SAS, die schwedische Fluggesellschaft, und FinnAir nehmen jetzt ihre abgesagten wöchentlichen Peking-Flüge wieder auf.

Die Ankunftshalle des Pekinger Flughafens wird renoviert. Ich warte wie üblich lange auf unser Gepäck. Wie früher auch werden die „großnasigen“ Ausländer vom chinesischen Zoll überhaupt nicht kontrolliert.

Für den unbedarften Beobachter macht Peking einen recht normalen Eindruck. Aber fuhr ich früher mit dem Fahrrad durch die Stadt, konnte ich mich vor den üblichen „Hellos“ und „Where are you from?“ kaum retten - jetzt werde ich kaum angesprochen. Die Ausländer sind den Pekingern etwas suspekt geworden; tragen sie doch regierungsamtlich Mitschuld an der „konterrevolutionären Erhebung“. Die Einheimischen meiden den Kontakt mit ihnen, auch wenn sie in Chinesisch angesprochen werden.

Bauernburschen

mit Stahlhelmen

Natürlich fallen die Soldaten auf. Aber ihre äußere Präsenz ist nach Angaben von Freunden in den letzten Wochen sehr stark zurückgegangen. Sie stehen an strategisch wichtigen Straßenkreuzungen oder etwa auch vor der amerikanischen Botschaft. Zumeist einzeln unter Schirmen, die vor Sonne und Regen schützen. Sie wirken wie Bauernburschen, denen man Stahlhelme aufgesetzt und eine Maschinenpistole in die Hände gedrückt hat. Manchmal lehnen sie sich, wenn sie keinen Schirm haben, gegen die Hauswand, um sich vor der sengenden Hitze zu retten. Fast verlegen sehen sie aus, befangen, ja fast furchtsam. Und Angst müssen sie haben - besonders nachts und dann vor Heckenschützen. Von allen Seiten wird mir berichtet, daß in der Dunkelheit immer wieder Soldaten erschossen werden. Vor dem Zhaolong-Hotel soll es vor zwei Wochen zu einem solchen Zwischenfall gekommen sein. Die Armee habe daraufhin das Gelände abgeriegelt und erfolglos nach den Schützen gesucht. In einem Kanal sei die Leiche eines Soldaten getrieben, mit einem Schild um den Hals: „Getötet von einem Familienangehörigen eines Opfers“. 1.000 Gewehre sind in der Nacht des Massakers verschwunden - genug für die Bildung einer Guerilla.

Immer wieder wird mir versichert: „Es ist alles, fast alles normal hier.“ Gleichzeitig werde ich gewarnt, nachts nach elf Uhr nicht auf die Straße zu gehen. Überall gibt es Kontrollen, scharfe Militärkontrollen. Ein Bekannter berichtet mir, vor etwa einem Monat sei er auf dem Weg vom Bahnhof (im Südosten Pekings) nach Haidian (im Nordwesten der Stadt) achtmal kontrolliert worden - mit Gewehr im Anschlag.

Der Tiananmen, Platz des Himmlischen Friedens, strahlt wahrlich himmlische Ruhe aus. Er ist militärisch abgesperrt, nur ganz wenige Besuchergruppen mit Sondererlaubnis dürfen ihn betreten. An den Straßenlaternen werden Reparaturarbeiten durchgeführt. Auch die Straßen rund um den Platz ist für Fußgänger Sperrgebiet. Fahrradfahrer und Autos dürfen nicht anhalten. An der südöstlichen Ecke des Tiananmen drängen sich die Besucher vom Land, um einen Blick auf den Platz zu erheischen. Es gibt keine offizielle Auskunft, warum der Platz abgesperrt bleibt. Sicher ist, daß die Behörden keine Trauerbekundungen, keine Niederlegung von Blumen und Kränzen zulassen wollen.

Militärherrschaft in der Akademie für Sozialwissenschaft

Als ich - Richtung Osten - an der Akademie für Sozialwissenschaften vorbeiradle, stockt mir doch der Atem: Dutzende von Soldaten paradieren auf dem Hof. Gleichzeitig bewegen sich die Mitarbeiter zur Versammlungshalle, fast im Gänsemarsch. Später klärt mich ein Pekinger auf: „Vor ein paar Wochen glich das Gebäude einer Festung“, sagt er. „Viele Mitarbeiter sind verschwunden, viele verhaftet.“ Täglich gebe es politische Schulungen. Die gesamte Akademie der Sozialwissenschaften gilt als eine Brutstätte der Aufruhrbewegung. Noch am 30. Juni hatte der Pekinger Bürgermeister Chen Xitong das Institut namentlich als Hort konterrevolutionärer Gedanken bezeichnet. „Die dabei erwähnten Personen und Institutionen lesen sich wie ein Who is Who der intellektuellen Elite Chinas“, sagt ein deutscher Diplomat. Die in der Rede des Bürgermeisters genannten Personen sind, sofern sie sich nicht ins Ausland abgesetzt haben, fast alle verhaftet, so etwa Dai Qing, eine berühmte Journalistin, die vom ZDF um Mithilfe für eine Sendung 40 Jahre Volksrepublik gebeten worden war, oder Su Xiaokong, dessen Fernsehfilm Fluß-Elegie der kritischen Auseinandersetzung mit der chinesischen Kultur im Winter und Frühjahr noch zu vielen Diskussionen geführt hat. Die Namen der meisten Verhafteten bleiben jedoch unbekannt. Verhaftet wird aber weiter - ohne daß es bekanntgegeben wird. Nachts kommen Soldaten oder Polizisten und holen die Leute aus den Betten. Von mehreren Seiten wird mir auch berichtet, daß es weiterhin zu Exekutionen komme. Aber Detailinformationen hat niemand. Auch die Orte des Grauens werden nicht genannt. Zu leicht könnten Zeugen zu Opfern werden. Auch von brutalen Folterungen wird berichtet. Ein Mann sei als „Soldaten-Mörder“ aufgrund einer Videoaufzeichnung identifiziert worden, lautet eines der Gerüchte, die in Peking kursieren. Unter der Folter habe er ein Dutzend Namen von Mittätern preisgegeben. Sie seien alle abgeholt und erschossen worden. Eine andere Geschichte: In einer Schule wird eine „Berichtigungsversammlung“ abgehalten; zwei Lehrer bekennen sich dazu, an Demonstrationen teilgenommen zu haben. Sofort werden sie von anwesenden Militärs verhaftet. Oder: Im Kindergarten habe ein Kind erzählt, sein Vater spiele mit einer Pistole. Die Folge: Hausdurchsuchung, Verhaftung, Folterung. Später stellt sich heraus, daß es sich um eine Spielzeugpistole gehandelt hat. Überhaupt müssen die Eltern, die in der Nähe vom Tiananmen-Platz oder im Bezirk Muxidi wohnen, wo es am 3. Juni abends zu einer regelrechten Straßenschlacht gekommen war, große Schwierigkeiten haben, ihren Kindern einzutrichtern, daß sie nichts gesehen haben. Denn es grassiert nach wie vor das Lügenmärchen der Regierung, daß die Armee praktisch ohne Blutvergießen die Stadt besetzt und den Platz geräumt habe.

Dazu hat die Parteiführung einen gigantischen Propagandaapparat in Bewegung gesetzt. Auch heute noch gibt es plötzlich Programmänderungen im Fernsehen, und es werden Dokumentationen wie beispielsweise Ein Meer von Blut und Tränen gezeigt, wobei Blut und Tränen nur bei den Soldaten der Befreiuungsarmee fließen. Die Berichte wirken oft übertrieben kitschig und rührselig: Nachdem eine Abteilung der Armee schon große Verluste erlitten habe, hätten die Soldaten auf den Knien den Kommandeur gebeten, scharf schießen zu dürfen. Der habe jedoch abgelehnt, denn die Kugeln könnten ja Unschuldige treffen.

„Abschaum“ - das Lieblingswort der Führung

Die Propagandafilme enthalten manchmal Szenen, die die Lügen offenkundig machen: Das Bild zeigt einen Demonstrationszug mit Tausenden von Menschen; der Sprecher nennt dies eine kleine Anzahl von Verbrechern oder „Abschaum“ - ein neues Lieblingswort der Machthaber.

Zwei englische Bekannte, die nach dem Massaker die ganze Zeit in Peking verbracht haben, sind ziemlich bedrückt. Sie klagen die westliche Presse an, daß sie angesichts der Verhaftungswelle schweige. Die Studentenbewegung, die Volkserhebung habe man bejubelt und gefeiert; jetzt, da die junge Elite Chinas die Konsequenzen tragen müsse, lasse man sie allein. Wo bleiben sie, die Proteste der westlichen Staatsmänner zu den Verhaftungen - zumindest zu denen der namentlich bekannten chinesischen Demokraten?

Ich hatte Angst, als ich aus dem Flugzeug stieg, meine chinesischen Freunde würden mich mit einer Mauer des Schweigens empfangen. Dies ist nicht der Fall. Im vertrauten Kreis wird offen geredet. „Öffentlich“, so sagen sie, „müssen wir alle lügen.“ Die Selbstkritik, die Übernahme der offiziell geforderten Interpretation der Ereignisse sind Lippenbekenntnisse. Sicher, alle haben die Rede von Deng studiert; jeder weiß, was zu sagen ist. Wut, Trauer und Schrecken sitzen aber noch tief. Viele sind psychisch gestört, sehen überall Verfolger, andere reden nur noch mit vorgehaltener Hand im Flüsterton. Sie warten immer noch auf ihre Verhaftung.

Und vielleicht ist eine solche psychische Krise ein sehr realistisches Angstverhalten; viele meinen, das Schlimmste komme erst noch. Die Verhaftungen werden sich „nach unten“ fortsetzen. Der Apparat von Militär, Sicherheitspolizei und Geheimdienst habe bislang noch gar nicht so viele Personen verhaften können; er sei vollkommen überlastet; die Gefängnisse seien in schlimmster Weise überfüllt. Eine Angabe spricht von 20 Personen auf elf Quadratmetern. Den Regierungsverlautbarungen wird nicht getraut: „Die lügen alle“, heißt es immer wieder. Wenn also Li Peng gesagt hat, die Menge der Mitläufer würde mit Milde behandelt, dann heißt das gar nichts. Zumindest, wenn bekannt wird, wer in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni auf dem Platz des Himmlischen Friedens war, bedeutet das mit großer Wahrscheinlichkeit die Verhaftung.

„Die Fackel der Demokratie“ aufs Land tragen

Manche Universitäten haben schon wieder den Lehrbetrieb aufgenommen. Es gibt ein Kurzsemester bis Ende September, um den durch den Streik ausgefallenen Lernstoff nachzuholen, dann fängt im Oktober das neue Semester an. An der Peking -Universität beginnen Säuberungen bei den Dozenten und Professoren. Es heißt, es gebe eine Liste mit 40 Namen. Ob eine Nennung auf dieser Liste 'nur‘ die Entlassung oder auch eine Verhaftung bedeutet, weiß niemand. Auch an der Pädagogischen Hochschule kam es vor ein paar Wochen noch einmal zu einem Aufflackern von Protest. Als die Absolventen des vierten Jahres ihre Arbeitszuteilung erhielten, merkten sie, daß sie alle in die Weite der fernen chinesischen Provinzen geschickt werden sollen. In Peking bekommen sie keine Stellen. Der Protest endete mit dem Schwur, „die Fackel der Demokratie“ dann auch aufs Land zu tragen.

In den Fremdspracheninstituten gibt es besondere Probleme: Die Absolventen finden gewöhnlich Arbeit beim Internationalen Chinesischen Reisebüro. Da aber der Strom der Touristen ausbleibt, werden keine neuen Reiseführer gebraucht. Die Stundenten stehen vor der Arbeitslosigkeit. Schätzungen besagen, daß im Sommer 1989 85 bis 90 Prozent weniger Touristen als noch vor einem Jahr nach China gekommen sind. Die Situation mancher Hotels ist bedenklich. Die staatlich betriebenen Hotels „ziehen“ ihre Angestellten „durch“ - trotz einer Belegrate von manchmal kaum zehn Prozent. Im „Great Wall-Sheraton“, eines der Pekinger First -Class-Hotels, wurden von 50 ausländischen Mitarbeitern mehr als die Hälfte entlassen. Die chinesische Belegschaft macht Kurzarbeit - vier Tage in der Woche mit 60 Prozent des Lohnes. Das „Mövenpick-Hotel“, weit außerhalb im Westen gelegen, hat ein Viertel seiner einheimischen Angestellten bereits entlassen. Für den Rest wurde ebenfalls Kurzarbeit mit vermindertem Lohn angeordnet. „Sonst hätten wir ganz schließen müssen“, meint der Manager. Das „Shangri-La-Hotel“ verlangt von einem deutschen Geschäftsmann für eine ehemals 165 Dollar teure Suite jetzt nur noch 50 Dollar. Die chinesische Fluggesellschaft CAAC gibt auf 71 Routen 20 Prozent Rabatt. Das Nobelrestaurant „Maxim's“ hat seine Tore ganz geschlossen. Der Freundschaftsladen, früher ausschließlich ausländischen Kunden zu Diensten, läßt jetzt auch chinesische Käufer in seine geheiligten Konsumräume. Eine merkwürdige Liberalisierung - als Schutz vor der Pleite.

„Laß meinen Sohn nicht

nach Hause kommen!“

Viele Geschäftsleute sind nach Peking zurückgekehrt oder wollen Anfang September zurückkommen. Doch nicht alle. Eine ganze Reihe von Firmen, deren China-Geschäft sowieso nicht mehr so gut lief, nimmt die jetzige Situation zum Anlaß, ihre Zelte zum Teil oder ganz abzubrechen. Manche lassen sich durch einen chinesischen Repräsentanten vertreten, andere setzen die Geschäfte von Hongkong aus fort. „Selbst die Deutsche Bank will ihr Repräsentationsbüro in Peking schließen“, lautet ein unbestätigtes Gerücht, das in Peking kursiert, und auch der Siemens-Vertreter in Peking wird zitiert: „Solange hier Kriegsrecht herrscht, kann es keine normalen Geschäftsbeziehungen geben.“ Doch die Deutsche Schule Peking wird Ende des Monats wieder mit dem Unterricht beginnen, wenn auch mit erheblich verminderter Schülerzahl. Denn oft kehrt die Familie nicht nach Peking zurück. Noch glauben viele Ausländer, es könne wieder zu Unruhen kommen, wenn „der alte Deng vollends hinüber ist“.

Eines Tages ruft mein alter Freund A. wieder an. Ich freue mich sehr. Das letzte Mal hatte ich ihn am 8. Juni getroffen. Er hat das Massaker überlebt, sieht aber aus wie vom Tod gezeichnet, aufgedunsen, dicke schwarze Ränder unter den Augen. „Es geht mir gut“, sagt er, „ich muß auf eine Dienstreise.“ Wir verabreden uns zum Essen nach seiner Rückkehr. Er wurde nicht verhaftet. Noch nicht?

Auf den ersten Blick herrscht in Peking die Normalität des Sommers. Wie eh und je bieten die Melonenverkäufer ihre Früchte feil. Wie immer baden Tausende im Houhai, den innerstädtischen Seen. Niemand scheint es zu scheren, daß die Behörden vor den Gesundheitsgefahren des völlig verdreckten Wassers warnen. Nur die Präsenz der bewaffneten „Volksunterdrückungsarmee“ macht deutlich, daß - im Untergrund, im Alltag meiner chinesischen Freunde und Bekannten - die Normalität des Terrors herrscht.

Ich treffe mich mit dem Vater eines chinesischen Studenten, der in der Bundesrepublik Deutschland studiert. Er fleht mich an: „Sage meinem Sohn, er soll in den nächsten Jahren nicht nach China zurückkehren.“