Die Boat people verlieren ihre letzten Refugien

Rupert Neudeck vom Notärzte-Komitee Cap Anamur über das fast vergessene Schicksal der vietnamesischen Flüchtlinge  ■ I N T E R V I E W

taz: Malaysia, das lange als hoffnungsvolle Anlaufstelle für die vietnamesischen Boat people galt, hat von Mai bis Juli 900 Flüchtlinge zurückgeschickt, obwohl sie auf dem Meer grausamen Attacken von Piraten ausgesetzt sind. Wie erklären Sie sich diese Politik?

Rupert Neudeck: Malaysia hat das auch schon 1979 getan, damals gab es massiven internationalen Protest. Heute wissen die südostasiatischen Staaten, daß kein Hahn mehr nach den Flüchtlingen kräht. Man kann davon ausgehen, daß die Anrainerstaaten des Südchinameeres und im Golf von Thailand die Piraterie dulden, um eine solch fürchterliche Situation herbeizuführen, daß man zum letzten Mittel greifen wird: zu dem, was man im Englischen „mendatory repatriation“ nennt.

Kann man also von beauftragter Piraterie sprechen?

Das UNO-Flüchtlingskommissariat sagt mir hinter vorgehaltener Hand, daß die zunehmenden Attacken auf einen Zusammenbruch der letzten Schutzmaßnahmen und Hemmungen an der thailändischen und malayischen Küste hindeuten. Seit zehn Jahren wurde auch unter Beteiligung der BRD die Flotte der thailändischen Marine fast jedes Jahr mit einem besseren Patrouillenboot ausgerüstet, die so gut wie nichts unternimmt, um der Piraterie das Handwerk zu legen. Seither betone ich, daß es keinen Sinn, macht diese Marine zu mästen, weil sie kein Interesse daran hat. In diesem Jahr hat sich die Situation noch verschärft, wir haben drei ganz furchtbare Massaker gehabt. Am 13. März ereignete sich das erste mit 56 Toten, am 27 April kamen 130 Menschen ums Leben, und vor einer Woche wurden 70 von 84 Menschen erschlagen und die Frauen verschleppt.

Wie erklären Sie sich das Gewaltpotential?

Piraterie hat in diesem Raum nicht wie bei uns mit Störtebeker aufgehört. Anfangs hatten eine Menge Vietnamesen noch Gold bei sich. Im Laufe der Zeit hat dies nachgelassen, zumal die Flüchtlinge ihr letztes Geld für die Fluchthilfe aufwenden. Allein die Frauen machen jetzt das bloody business aus, weshalb die Männer ja auch erschlagen werden. All dies schreit nach internationalen Reaktionen, aber diese Menschen sind im Grunde vogelfrei, weil sie nicht mehr den Ehrentitel „refugee“ tragen, sondern als „illegal immigrants“ noch auf dem Festland jeglichen Attacken ausgeliefert sind. Im Moment haben wir den absurden Zustand, daß die Regierung von Vietnam, die wegen ihrer Menschenrechtsverstöße geradezu international geächtet wurde, heute die westlichen Regierungen darauf aufmerksam machen muß, daß sie nur freiwillige Rückkehrer und nicht gewaltsam zurückgeführte Flüchtlinge aufnimmt.

Dabei denken Sie auch an Hongkong?

Die Hongkonger Boat people hatten im Grunde immer einen etwas leichteren Weg. Viele von den Flüchtlingen, die dort in Booten angekommen sind, haben sich unterwegs noch einmal mit Treibstoff und Lebensmitteln versorgen lassen, wozu die chinesischen Häfen entlang der Küste bereit gewesen sind. Dennoch sind die Menschen auch dort vogelfrei, auch dort droht jetzt aufgrund des noch nicht dementierten Geheimabkommens zwischen London und Hanoi eine gewaltsame Repatriierung. Man muß sehr wohl darauf hinarbeiten, eine Repatriierung derer, die sich in Lagern aufhalten, zu ermöglichen. Hier geht mein Appell an die Regierungen Europas. Die ASEAN-Staaten bekunden ja ihre Bereitschaft zu Investitionen, zumal im Hinblick auf den in Indochina entstehenden Markt. Die westlichen Regierungen reden zwar von Menschenrechten, geht es aber darum, 47.000 Flüchtlingen in den ersten Monaten 1989 zu helfen, das sind gleich viel wie im Jahr 1988 zusammen, und dies wiederum doppelt soviel wie im Vorjahr, gestaltet sich allles sehr schwierig. Wenn am 27. September der letzte vietnamesische Soldat Kambodscha verlassen haben wird, ist unser letztes Argument für ein Zögern hinfällig. Wir sind jetzt mit dem finanzkräftigsten Projekt, das wir je organisiert haben, in Vietnam vertreten und bauen drei Krankenhäuser auf. In diesem Monat schickt Notärzte Cap Anamur noch einmal sechs Ärzte nach Vietnam.

Was tun Sie für die Boat people?

Wir gehen mit einem Schiff, das als Protektionsschiff ausgerüstet wird, in den Golf von Thailand und ins Indochina -Meer, um die Flüchtlinge vor den Piraten zu schützen und zu retten. Boote werden mit Proviant versorgt und bis zur Küste gebracht, wo wir solange Begleitschutz gewähren, bis die Leute auf sicheren Boden sind.

Interview: Simone Lenz